Streit um kurdische Flüchtlinge und das Schengener Abkommen

29. Januar 1998

Die Landung kurdischer Flüchtlinge aus der Türkei und dem Nordirak an der süditalienischen Küste fand in den letzten zwei Monaten große Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit und löste eine Debatte über das Schengener Abkommen aus. Dieses regelt den Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedsländern und verpflichtet sie zu strengeren Kontrollen der EU-Außengrenzen (siehe: Das Schengener Abkommen).

Am 27. Dezember 1997 strandete vor Kalabrien das Schiff "Ararat" mit 825 zumeist kurdischen Flüchtlingen. Es war im vergangenen Jahr das siebte größere Schiff mit Asylbewerbern und Immigranten an Bord, von dem die Öffentlichkeit Kenntnis erhielt. Am 1. Januar 1998 folgte die "Comet" mit 386 Flüchtlingen. Zeitungsberichte über eine große Anzahl weiterer Schiffe, die an der türkischen Küste noch auf ihr Auslaufen warteten, konnten nicht bestätigt werden. Insgesamt kamen 1997 etwa 2.500 Kurden auf dem Seeweg irregulär ohne gültige Einreisedokumente nach Italien. Im gleichen Zeitraum wurden etwa 38.000 illegal eingereiste Personen aus Italien ausgewiesen.

In einer ersten Reaktion kündigte der italienische Innenminister Giorgio Napolitano eine Verstärkung der Polizei und des Grenzschutzes an, appellierte aber zugleich an die internationale Gemeinschaft, "die Rechte des kurdischen Volkes anzuerkennen" und eine Friedensinitiative zu ergreifen. Staatspräsident Scalfaro rief in seiner Neujahrsansprache zum Verständnis gegenüber den Flüchtlingen auf: "Wenn Menschen kommen, weil sie verfolgt werden, dann müssen die Türen weit offen stehen." Nach Rücksprache mit Regierungschef Romano Prodi kündigte Innenminister Napolitano an, den kurdischen Flüchtlingen nach Prüfung ihrer Herkunft in Italien politisches Asyl zu gewähren. (siehe: Der Kurdistan-Konflikt als Fluchtursache)

Während sich führende italienische Politiker für eine Aufnahme der Flüchtlinge aussprachen, wurde v.a. aus Regierungskreisen in Deutschland, Österreich und der Türkei Kritik an der Verfahrensweise Italiens geäußert. Dabei wurde eine Weiterreise der kurdischen Flüchtlinge in andere EU-Staaten, besonders nach Deutschland, befürchtet.

Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) forderte die italienische, griechische und türkische Regierung auf, ihre Grenzkontrollen sowohl an den Küsten als auch im Landesinneren zu verstärken. Sprecher von Pro Asyl und Amnesty International kritisierten dies als Aufruf zum Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.Personen, die an der Grenze eines Vertragsstaates Asyl beantragten, hätten einen Rechtsanspruch auf ein Verfahren. Ähnliche Kritik wurde aus der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen geäußert, aber auch aus der CDU-Bundestagsfraktion. Der CDU-Außenpolitiker Armin Laschet warf dem Bundesinnenminister vor, er schüre Angst vor einer kurdischen Flüchtlingswelle. Es seien jedoch bis Mitte Januar 1998 lediglich vier Kurden nach Deutschland gekommen.

Für 1998 kündigte Kanther ein "Sicherheitsjahr" an, in dem vor allem die illegale Zuwanderung bekämpft werden müsse. In einem Neun-Punkte-Katalog schlägt er vor, das Ausländer-Zentralregister zu erweitern (siehe MuB 1/98), dem Bundesgrenzschutz (BGS) mehr Kompetenzen zu geben sowie die Sozialhilfevorschriften zu verschärfen. Weiterhin soll durch ein Verwaltungsabkommen zwischen BGS und den Landespolizeien energischer gegen Schleuser und Menschenhandel vorgegangen werden. Diese Schwerpunkte sollen auch die deutsche Schengen-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1998 und den deutschen EU-Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 1999 prägen. Gleichzeitig kündigte Kanther eine Verstärkung des BGS in Baden-Württemberg und Bayern an.

Der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) und der CDU-Politiker Rupert Scholz forderten eine Aussetzung des Schengener Abkommens. Ihr Vorstoß wurde jedoch weitgehend abgelehnt. Sowohl Kanther als auch der Vorsitzende der Landesinnenministerkonferenz Walter Zuber (SPD) betonten, daß es für einen solchen Schritt derzeit keine Notwendigkeit gäbe. Außenminister Klaus Kinkel (FDP) hob hervor, daß das Schengener Abkommen das adäquate Mittel zur Sicherung der EU-Außengrenzen sei. Allerdings müsse Deutschland auf dessen Einhaltung drängen.

Österreichs Innenminister Karl Schlögl (SPö) verfügte zum Jahreswechsel die Wiedereinführung der Grenzkontrollen für aus Italien ein- oder durchreisende Personen. Wie auch Frankreichs Außenminister Hubert Vedrine (PSF) forderte Schlögl ein einheitliches Vorgehen der EU gegenüber den kurdischen Flüchtlingen. Die schwedische Außenministerin Lena Hjelm-Wallen rief die EU-Partner auf, das Flüchtlingsproblem nicht mit einer Abschottung der Grenzen zu beantworten.

Die türkische Regierung veranlaßte Anfang Januar 1998 eine Verschärfung der Kontrollen an ihren Küsten, um Flüchtlingsschiffe am Auslaufen zu hindern. Bei einer Großrazzia in Istanbul nahm die türkische Polizei 1.374 ausreisewillige Personen fest, unter ihnen über 300 türkische und 210 irakische Kurden sowie 424 Personen ohne Papiere. Insgesamt wurden laut Innenminister Murat Basesgioglu in den ersten beiden Januarwochen etwa 3.000 Personen festgenommen.

Gegenüber den EU-Staaten warnte die türkische Regierung vor einer Asylgewährung für kurdische Flüchtlinge, da "die großzügige und blauäugige Politik der Europäer" weitere Flüchtlingsbewegungen nach sich ziehen würde. Bei der Flucht handele es sich "um einen kriminellen Akt, in den kriminelle Elemente verwickelt sind". Insbesondere die kurdische Arbeiterpartei PKK sei für illegalen Menschenhandel verantwortlich. Die an die Schleuserorganisationen zu zahlenden Beträge für eine Passage von der türkischen zur italienischen Küste schwanken nach Flüchtlingsangaben zwischen etwa 3.000 und 7.000 DM pro Kopf.

Eine eigens zur Flüchtlingsproblematik einberufene Konferenz der EU-Arbeitsgruppe Migration am 7. Januar 1998 in Brüssel erarbeitete einen Aktionsplan, der dem Außenministerrat der EU am 26. Januar vorgelegt wurde. Er sieht eine striktere Kontrolle der EU-Außengrenzen, verstärkten Informationsaustausch zwischen den Mitgliedsstaaten sowie die Schulung der Grenzbeamten im Umgang mit illegalen Einwanderern vor. Außerdem solle die Polizeibehörde Europol Informationen Über die Verbindungen zwischen organisiertem Verbrechen und Schleuserorganisationen liefern.

Die Bekämpfung der Schleuserkriminalität sowie Maßnahmen zur Grenzsicherung waren auch Themen einer Polizeikonferenz mit Teilnehmern aus sieben EU-Staaten und der Türkei am 8. Januar in Rom. Einzelheiten der nicht-öffentlichen Sitzung wurden nicht bekannt. Der Konflikt zwischen Bonn und Rom über angeblich unzureichende Kontrollen in Italien überschattete die Tagung.

Die Ausländerbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), betonte, bei den Bootsflüchtlingen handele es sich um "Menschen in Not" und nicht um Kriminelle. Sie rief die EU-Staaten zu einem gemeinsamen Handeln auf, wie dies auch Sprecher der EU-Kommission forderten. Es müsse dabei, so Schmalz-Jacobsen, ebenfalls um eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union gehen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) lobte die italienische Regierung: "Die Einstellung und das Handeln der italienischen Regierung waren bisher vorbildlich."

Die norwegische Regierung kündigte unterdessen an, künftig mehr Asylbewerber aufzunehmen und den Kreis der Berechtigten zu erweitern. Justizministerin Aud-Inger Aure teilte mit, daß nunmehr auch geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen sowie Verfolgung aufgrund von Homosexualität als Asylgründe anzuerkennen seien. Entgegen der in EU-Staaten üblichen Praxis soll Asylbewerbern, die über einen "sicheren Drittstaat" eingereist sind, die Einreise nach Norwegen gestattet werden.


Das Schengener Abkommen

Benannt nach dem Ort Schengen in Luxemburg wurde das sog. Schengener Abkommen am 14. Juni 1985 von Frankreich, den Benelux-Staaten und der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Es sieht den schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Unterzeichnerstaaten sowie eine strikte Kontrolle der Außengrenzen vor. Fünf Jahre später, am 19. Juni 1990, folgte das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ), welches zusätzlich eine Harmonisierung der Vergabe von Visa an Bürger von Drittstaaten sowie justitielle und polizeiliche Kooperation beinhaltet. Seit dem 26. März 1995 wird das SDÜ in den fünf ursprünglichen Unterzeichnerstaaten sowie in Spanien und Portugal angewandt. Seit Ende 1997 gelten die Bestimmungen auch für Griechenland und Italien. Für Österreich gilt eine Übergangsfrist bis 31. März 1998. Aus Griechenland einreisende Personen werden weiterhin kontrolliert. Nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages soll das Schengener Abkommen in den institutionellen Rahmen der EU eingefügt werden (änderungen zum EU- und EG-Vertrag sowie damit zusammenhängende Rechtsakte; im Internet unter: http://ue.eu.int/Amsterdam/de/treaty/treaty.htm).

Im SDÜ werden auch die Zuständigkeiten für gestellte Asylanträge festgelegt. Grundsätzlich ist derjenige Staat zuständig, in den der Antragsteller zuerst eingereist ist. Ausnahmen bilden v.a. Fälle des Familiennachzugs sowie bereits vorhandene Sichtvermerke eines Vertragsstaates. Im SDÜ wurde auch eine Liste von Staaten festgelegt, deren Bürger bei einer Einreise in das Schengen-Gebiet ein Visum benötigen.

ähnliche Bestimmungen finden sich in der Dubliner Konvention (in Kraft seit September 1997). Gemäß Artikel 9 der Dubliner Konvention könnte Italien in der derzeitigen Situation andere Staaten um Aufnahme kurdischer Flüchtlinge aus humanitären und familiÄren Gründen ersuchen. Sobald Flüchtlinge in einem Konventionsstaat als asylberechtigt anerkannt wurden, können sie frei innerhalb der EU reisen, haben aber kein Recht auf Wohnsitzwahl und Arbeitsaufnahme in einem anderen EU-Staat.

Das Schengener Abkommen ist in erster Linie integrationspolitisch (Freizügigkeit der Bürger innerhalb der EuropÄischen Union) und nicht migrationspolitisch motiviert. Seitens der EuropÄischen Kommission liegen VorschlÄge für eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik vor. Da sich jedoch die Mehrzahl der EU-Staaten weigert, Flüchtlingskontingente aus Deutschland zu übernehmen (etwa die HÄlfte aller Asylbewerber und anerkannten Flüchtlinge innerhalb der EU lebt in der BRD), blockiert die Bundesregierung Fortschritte hinsichtlich einer vergemeinschafteten Flüchtlingspolitik. So wurde die deutsche Zustimmung zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung im EU-Ministerrat bei der Asyl- und Visumspolitik wÄhrend des Amsterdamer Gipfels (Juni 1997) von Bundeskanzler Kohl zurückgezogen, da er befürchtete, daß Deutschland im Falle einer Lockerung der Visabestimmungen überstimmt werden könnte.


Der Kurdistan-Konflikt als Fluchtursache

Etwa 35 Millionen Kurden leben innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei (18-20 Mio.), des Irans (8-10 Mio.), des Iraks (5 Mio.) und Syriens (1,5 Mio.). Kleinere kurdische Gemeinschaften sind in Armenien und Aserbaidschan zu finden. Etwa 75% der Kurden sind sunnitische Moslems, 15% alevitische Moslems. Die kurdische Sprache zÄhlt zur Familie der iranischen Sprachen, sie ist weder mit der türkischen noch mit der arabischen Sprache verwandt, wohl aber mit den indoeuropÄischen Sprachen.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde den Kurden im Vertrg von Sèvres (10. August 1920) ein eigener Staat Kurdistan zugesprochen. Der Anspruch der Kurden auf einen eigenen Staat blieb jedoch bisher ohne Erfolg.

Seit 1979 herrscht in den von Kurden bewohnten Gebieten der Türkei der Ausnahmezustand. Seit 1984 leisten die nach mehr Autonomie strebenden Kurdenorganisationen (v.a. die kurdische Arbeiterpartei PKK) bewaffneten Widerstand gegen die türkische Armee, wobei nach Angaben der türkischen Regierung bislang etwa 30.000 Menschen ums Leben kamen. Der größte Teil der Opfer stammt aus der Zivilbevölkerung. Fernseh- und Radiosendungen in kurdischer Sprache sowie die Verwendung der kurdischen Sprache in Schulen und auf politischen Veranstaltungen sind per Gesetz verboten und werden strafrechtlich verfolgt. GemÄßigtere Kurdenparteien (DEP, HADEP) wurden in der Türkei verboten und ihre Parlamentsabgeordneten zu langjÄhrigen Haftstrafen verurteilt.

Der Vorsitzende des Türkischen Menschenrechtsverbands (IHD) Akin Birdal forderte die Regierung in Ankara zur friedlichen Lösung des Konflikts im Osten und Südosten der Türkei auf. Die Flucht der Kurden bezeichnete er als "Ergebnis des Krieges in der Türkei Der derzeitige Vorgang ist vollkommen ein Problem von Menschenrechten", so Birdal.

Auch in den von Kurden besiedelten Gebieten des Iraks und des Irans finden seit Jahrzehnten bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Regierungstruppen sowie - im Falle des Nordiraks - zwischen rivalisierenden Kurdenorganisationen statt. Im Nordirak besteht seit Ende des Golfkrieges eine durch Beschluß des UN-Sicherheitsrates von 1991 etablierte internationale Schutzzone für die dort lebenden Kurden. Die Türkei hat seit 1993 in fünf größeren MilitÄroperationen Teile dieser vor allem von den USA, Großbritannien und Frankreich garantierten Schutzzone besetzt, was zusÄtzliche Flüchtlingsströme zur Folge hatte.

1961 schloß die deutsche Bundesregierung ein Abwerbeabkommen mit der Türkei. In der Folge kamen auch kurdische Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Derzeit leben etwa 500.000 Kurden in Deutschland. Insgesamt betrÄgt die Zahl der in europÄischen LÄndern lebenden Kurden (Arbeitsmigranten sowie Flüchtlinge aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen) rund 1 Million.

Stefan Alscher, Lehrstuhl Bevölkerungswissenschaft, Humboldt-UniversitÄt Berlin

Quellen: dpa, SZ, Berliner Zeitung, TAZ, ZDF-MSNBC, Verónica Tomei: EuropÄische Migrationspolitik zwischen Kooperationszwang und SouverÄnitÄtsansprüchen. Bonn: Europa Union Verlag, 1997

Stefan Alscher (HU-Berlin)