Tschetschenien: Flüchtlingskrise verschärft sich

12. November 1999

Das militärische Vorgehen Russlands gegen die nach Unabhängigkeit strebende Kaukasus-Republik Tschetschenien hat nach Angaben des russischen Ministeriums für Katastrophenschutz ca. 190.000 Menschen in umliegende Regionen vertrieben (Stand: 28. Oktober 1999). Mittlerweile riegelte das russische Militär die letzte Fluchtroute zwischen der Hauptstadt Grosny und der Grenze zu Inguschetien völlig ab. Zwar hielt das südlich angrenzende Georgien seine Grenzübergänge für Frauen, Kinder und ältere Menschen offen, der Weg dorthin führt allerdings durch schwer zugängliches Hochgebirge. Internationalen Protesten gegenüber rechtfertigte Russland diese Maßnahme mit dem Kampf gegen Terrorismus und dem Erhalt der territorialen Integrität.

Seit Beginn der Luftangriffe am 5. September flüchteten fast täglich Menschen über die Grenze nach Inguschetien. Nach offiziellen Angaben sollen dort 173.000 Flüchtlinge Zuflucht gefunden haben. Nachrichtenagenturen berichteten von einer Massenflucht aus Grosny, nachdem russische Bodentruppen erste Vororte der Hauptstadt erreichten. Der inguschetische Präsident Ruslan Auschew teilte mit, dass die Lage der Flüchtlinge äußerst prekär sei. Es fehle an Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums gab erste Fälle von Tuberkulose in Flüchtlingslagern bekannt. Da nicht genügend Unterkünfte und Zelte vorhanden sind, müssen 14.000 Flüchtlinge trotz des kalten Herbstwetters unter freiem Himmel übernachten. Die Außenminister der Europäischen Union stellten 2 Mio. DM für Hilfsaktionen zur Verfügung und forderten Russland auf, humanitären Organisationen ungehinderten Zugang nach Tschetschenien zu gewähren.

Unter den Flüchtlingen befinden sich neben Tschetschenen auch ethnische Russen, Ukrainer und Dagestanen. Sie durften in umliegende Regionen weiterziehen. In Nordossetien sollen sich nach offiziellen Angaben 10.000 Flüchtlinge aufhalten, in Stawropol und Dagestan jeweils 4.000. Georgien hat eigenen Angaben zufolge 1.600 Flüchtlinge aufgenommen. Vor dem ersten Tschetschenienkrieg 1994-1996 lebten etwa 1,2 Mio. Menschen in der Kaukasus-Republik. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sollen sich inzwischen nur noch 120.000 Menschen im Land befinden.

Auschew kritisierte die Vorgehensweise Russlands und verwies auf die Verfassung, die allen Staatsangehörigen und damit auch Tschetschenen die Freizügigkeit garantiere. Das russische Militär riegelte den Grenzübergang ab, weil es eigenen Angaben zufolge das Eindringen tschetschenischer Kämpfer nach Russland verhindern wolle. Das massive militärische Vorgehen Russlands wurde mit dem Eindringen tschetschenischer Milizen in Dagestan begründet, die dort einen islamischen Gottesstaat errichten wollten. Zusätzlich macht die russische Regierung tschetschenische Terroristen für Bombenanschläge verantwortlich, denen in Moskau und anderen russischen Städten fast 300 Menschen zum Opfer fielen.

Ausgabe: