Tipp aus der Redaktion

11. Dezember 2014

Zum Jahresende empfehlen wir in kurzer und knapper Form die in unseren Augen besten Medien des Jahres aus dem Themenfeld Flucht und Asyl, Migration und Demografie, Integration und Toleranz. Dazu gehören das Online-Newsgame „Refugees“ von Arte und sueddeutsche.de, eine Studie, die sich der EU-Außengrenze aus einer neuen, gewinnbringenden Perspektive nähert sowie einer preisverdächtigen Untersuchung der historischen Genese und Pflege der denunziatorischen Imagination des „Zigeuner“-Stereotyps anhand der Fotografie.

„Refugees“. Ein Online-Newsgame von Arte und Süddeutsche Zeitung Online.

Seit Oktober bieten der Fernsehsender Arte und das Internetportal sueddeutsche.de Interessierten die Möglichkeit, sich in die Lage eines Reporters in Flüchtlingslagern zu versetzen. Als fiktiver Journalist wird der Spieler des Online-Newsgames „Refugee“ in vier Camps in Nepal, Irak, Libanon und dem Tschad geschickt, um mit verschiedenen Akteuren zu sprechen. Echte Mini-Reportagen und Interviews informieren beispielweise über die Wiedereingliederung von Flüchtlingen in Nepal oder die Diskriminierung der Lager-Bewohner im Libanon. Anschließend erstellt der Spieler aus einem vielfältigen Angebot, das von einem Comiczeichner, einem Autor, einem Regisseur und einem Fotografen erstellt wurde, eine Multimedia-Reportage zu jeder Station und erhält Feedback von einer Chefredakteurin. Ziel der „Reportage zum Spielen“ sei es, Interessierten einen neuen Zugang zu einem komplexen Thema zu verschaffen. Parallel dazu zeigt Arte noch bis Mitte Dezember jeden Samstag Berichte der Projektmacher und Dokumentationen zu den Lebenssituationen in Flüchtlingslagern. sl

Andreas Müller: Governing Mobility beyond the State: Centre, Periphery and the EU's External Borders.

Die Außengrenze der EU genießt besonderes Augenmerk in der Migrationsforschung. Die im Sommer 2014 erschienene Monographie nähert sich diesem Thema dagegen aus einer für die Migrationsforschung neuen, Gewinn bringenden Perspektive. Mit einem institutionalistischen Grenzbegriff, der die Grenze als von Migration unabhängiges Regelwerk zur konfliktfreien Souveränitätsausübung zweier Staaten versteht, gelingt es dem Autor, die Funktion der Migrationskontrolle von der Institution der Grenze zu unterscheiden. Damit präsentiert das Buch einen analytischen Rahmen, um Grenztransformation zu analysieren und dabei die in der Migrationsforschung gängige, aber tautologische Gleichsetzung der Grenze mit dem Ort der Kontrolle zu vermeiden. Aus dieser Perspektive erscheint die EU weder als ein Staat mit einer Grenze, noch wird Schengen als Grenzabbau verstanden. Vielmehr verlieren im Rahmen der europäischen Integration bestimmte Grenzen die Funktion der Migrations- und Mobilitätskontrolle, während andere Grenzen zwar weiterhin nationale Grenzen bleiben, aber gleichzeitig für die Kernstaaten zu Instanzen exterritorialer Zuwanderungskontrolle werden. Darauf aufbauend analysiert das Buch die unterschiedlichen Kontrollstrategien von Kern- und Randstaaten der Europäischen Union und entwickelt damit ein Erklärungsmodell für die Verlagerung der Migrationskontrolle außerhalb des Schengenraums. sta

Palgrave Macmillan, Juli 2014, 81,61 Euro, ISBN 978-1-1373-8941-1. www.palgrave.com

Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“.

Es reicht ein oberflächlicher Blick auf die bundespolitische Debatte um die sogenannte „Armutsmigration“, um die Aktualität dieser fundamentalen und bislang einzigartigen Studie vor Augen geführt zu bekommen. Glaubt man denjenigen, die diese Debatte immer wieder befeuern, sind es Sinti, Roma, Fahrende oder einfach „Zigeuner“, die vermeintlich massenhaft nach Deutschland einwandern, um in den Genuss der hiesigen Sozialleistungen zu kommen. Nachdem man Frank Reuters preisverdächtige Untersuchung von Genese und Pflege der denunziatorischen Imagination des „Zigeuner“-Stereotyps gelesen hat, löst der Blick auf diese Diskussion eine umso größere Beklemmung aus. Der Heidelberger Historiker arbeitet zentrale und vom NS-Regime verstärkte Bildmotive des Antiziganismus heraus, die die angeblich phänotypische Andersartigkeit der ziganistischen Minderheit in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft belegen sollen. Diese spiegeln sich in absichtlich xenophober oder fahrlässig denunziatorischer Weise in der historischen Dokumentarfotografie wieder, wenn „Zigeuner“ als ewige Nomaden, arbeitsscheu und kriminell inszeniert wurden. Diese Imagination hat sich tief eingeprägt. „Was wir historisches oder kulturelles Gedächtnis nennen, gründet sich ganz wesentlich auf Bilder und die damit verknüpften Codes“, schreibt Reuters. Das ist aus zweierlei Gründen fatal. Zum einen werden jene übersehen, die nicht in das stereotype Klischee passen, zum anderen erfährt durch die Wiederholung des Klischees eine Vorstellung vermeintlich Bestätigung, so dass sie am Ende stärker als die Wirklichkeit ist. Deshalb finden wir noch in der aktuellen Berichterstattung den „fragwürdigen Armutsvoyeurismus“, der die Dokumentarfotografie von „Zigeunern“ Anfang des 20. Jahrhunderts schon prägte. th

Wallstein Verlag, Oktober 2014, 64 Euro, ISBN 978-3-8353-1578-5. www.wallstein.de.

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