EU-Osterweiterung: Längere Übergangsfristen bei der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ?

10. Juni 1998

Ende März 1998 begannen die offiziellen Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union (EU) und sechs der elf Beitrittskandidaten. Die erste Runde der Osterweiterung umfaßt Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien, Estland und Zypern. Die Niederlassungsfreiheit für Arbeitnehmer aus den Beitrittskandidaten gilt als einer der Hauptpunkte der Verhandlungen. Sie löst vor allem in Deutschland, Österreich und in Skandinavien Bedenken aus. Vermehrt werden Stimmen laut, die eine „Überflutung" der EU-Arbeitsmärkte durch billige osteuropäische Arbeitskräfte befürchten. Dies geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund von 18 Mio. Arbeitslosen in der EU.

Wichtigstes Argument ist das Wohlstandsgefälle von drei zu eins zwischen dem EU-Durchschnitt und den Beitrittskandidaten. Dies könnte für die Bürger Ostmittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) einen Anreiz darstellen, eine Beschäftigung in anderen EU-Staaten zu suchen. Unter Freizügigkeitsbedingungen käme es somit, so die Befürchtungen, zu einem starken Verdrängungswettbewerb und einem negativen Lohndruck auf den Arbeitsmärkten der westlichen EU-Mitgliedsstaaten.

Wie schon im Fall der Süderweiterung werden nun Übergangsfristen diskutiert. So fordert die CSU, den deutschen Arbeitsmarkt nicht vor dem Jahr 2015 für Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa zu öffnen. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) spricht sich für Übergangsregelungen wie im Falle der EU-Süderweiterung aus. Dagegen besteht der polnische Minister für Europäische Integration Ryszard Czarnecki auf einer sofortigen Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit dem Beitritt Polens zur EU. Der ehemalige ungarische Arbeitsminister Péter Kiss hält dagegen einen sofortigen unlimitierten Zugang ungarischer Arbeitskräfte zu den EU-Arbeitsmärkten für unwahrscheinlich. Er spricht sich daher für ein Quotensystem aus, welches während der Übergangsphase einer bestimmten Anzahl von Arbeitskräften die Möglichkeit einräumt, in den anderen EU-Staaten zu arbeiten.

Für eine „Überflutung" der EU-Arbeitsmärkte durch Ostmitteleuropäer spricht wenig. Daß eine Vielzahl arbeitsloser MOE-Bürger in einem EU-Staat Beschäftigung finden wird, gilt als unwahrscheinlich. Die Konzeption der Arbeitnehmerfreizügigkeit basiert auf einer unbeschränkten Wanderung der Arbeitnehmer, nicht der Arbeitslosen. Arbeitslose aus einem anderen Mitgliedsstaat erhalten nur dann Arbeitslosengeld in einem EU-Staat, wenn sie dort zuvor auch beschäftigt gewesen sind.

Schon bei der Süderweiterung, als 1981 Griechenland und 1986 Portugal und Spanien der EG beitraten, führten ähnliche Befürchtungen zur Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Für portugiesische und spanische Arbeitnehmer betrug die Übergangsphase acht Jahre; wollten sie in Luxemburg einer Beschäftigung nachgehen, betrug sie sogar zehn Jahre. Zu dem befürchteten Massenexodus von Arbeitskräften aus Südeuropa kam es auch nachher nicht. Die Übergangsregelungen für portugiesische und spanische Arbeitnehmer wurden später auf sieben Jahre verkürzt und endeten 1992.

Vergleicht man die Ost-West-Wanderung der Jahre nach 1990 mit den vorangegangenen vier Jahrzehnten, so ist ohne Zweifel ein Anstieg festzustellen. Nachdem Ungarn im Mai 1989 den Eisernen Vorhang geöffnet hatte, stiegen die Emigrationszahlen infolge der neu erlangten Reisefreizügigkeit an. Vier der fünf jetzigen MOE-Beitrittskandidaten sind jedoch keine Hauptherkunftsländer von Migranten. Die Ausnahme ist Polen.

In den Jahren 1991 bis 1993 wanderten 2,3 bis 2,7 Mio. Menschen aus der früheren Sowjetunion und Osteuropa in den Westen. Hauptzielland war Deutschland, das in den Jahren 1991 bis 1993 eine Nettozuwanderung von 1,5 Mio. Menschen aus dieser Region verbuchte. Heute beträgt der Anteil der Osteuropäer (inkl. der Staatsangehörigen der ehem. UdSSR und Ex-Jugoslawiens) an der ausländischen Bevölkerung der EU knapp 13%. Das entspricht 2,3 Mio. Personen oder 0,6% der EU-Gesamtbevölkerung. Insgesamt sind 727.600 Personen aus Ostmittel- und Osteuropa in der EU beschäftigt gemeldet, der größte Teil davon in Deutschland. In fast allen anderen EU-Staaten veränderte sich der Anteil der legal beschäftigten Osteuropäer nicht dramatisch, wenngleich die unvollständige Datenlage und der Anteil irregulär oder illegal Beschäftigter berücksichtigt werden müssen.

Das zukünftige Migrationspotential abzuschätzen, ist deshalb nicht leicht, da Migration zwischen EU-Staaten unter Freizügigkeitsbedingungen eine „Mischform" aus Binnenwanderung und internationaler Wanderung darstellt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) untersuchte das Potential wanderungswilliger Arbeitskräfte der fünf CEFTA-Staaten (Central European Free Trade Area) Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei und Slowenien. Danach wäre mit einer jährlichen Zuwanderung von 340.000 bis 680.000 Arbeitskräften in die EU zu rechnen. Eine Studie des Instituts für Stadt- und Regionalforschung (ISR) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften kommt zu dem Ergebnis, daß ca. 700.000 Staatsangehörige der vier Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei) bereit wären, eine Beschäftigung im Westen zu suchen. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und das Seminar für Arbeits- und Bevölkerungsökonomie (SELAPO) schätzen, daß in einem Zeitraum von fünf Jahren nach dem Beitritt 1,6 Mio. Arbeitnehmer aus den fünf ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten unter Freizügigkeitsbedingungen nach Deutschland zuwandern könnten.

Ob es tatsächlich zu Migration in dieser Größenordnung kommen wird, ist ungewiß. Zu bedenken ist jedenfalls: Nur diejenigen Arbeitnehmer, die eine Beschäftigung gefunden haben, dürfen sich für eine längere Zeit legal in einem anderen EU-Staat aufhalten. Zwar könnte es dann zur Abwanderung von migrationswilligen MOE-Bürgern nach Westen kommen. Von jenen, die keinen Arbeitsplatz finden, ihn verlieren oder ihr Sparziel erreichen, werden jedoch die meisten wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, statt Illegalität in Kauf zu nehmen. Wer das Recht auf Freizügigkeit hat, wird einen illegalen Aufenthalt kaum attraktiv finden. Daneben scheint für viele potentielle Migranten ein temporärer Aufenthalt im Westen weitaus attraktiver zu sein als ein dauerhafter Wechsel des Lebensmittelpunktes, da die Kaufkraft des im Westen erzielten Einkommens in den MOE-Staaten auf absehbare Zeit höher sein wird. Schließlich ist zu bedenken: Wenn es aufgrund von Übergangsfristen erst ab 2012 - 2015 zu freiem Zugang der MOE-Bürger zu Westeuropas Arbeitsmärkten kommt, werden sich die migrationsauslösenden Unterschiede der Löhne und des Lebensniveaus bis dahin deutlich verringert haben.

Quellen: Quellen: "CSU: Arbeitsmarkt erst 2015 für Osteuropäer öffnen", Süddeutsche Zeitung, 16. April 1998; "BDI: Stellungnahme zur Agenda 2000/ Osterweiterung der EU", Köln, 14. November 1997; Budapest Business Journal, 28. Februar 1998; "Europäische Union: Osterweiterung und Arbeitskräftemigration", DIW-Wochenbericht 5/97; "Migrationspotential Ostmitteleuropa", ISR-Forschungsberichte, Heft 15, Wien 1997; "EU-Osterweiterung drückt Löhne in Deutschland", Die Welt, 3. März 1997

Manfred Profazi (IOM)

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