EU-Präsidentschaft: Reform der europäischen Flüchtlingspolitik vorgeschlagen

26. Oktober 1998

Im September 1998 wurde ein Strategiepapier Österreichs zur Migrations- und Asylpolitik bekannt. Österreich, das bis Ende 1998 die EU-Präsidentschaft innehat, schlug den anderen Mitgliedsstaaten darin unter anderem vor, die Genfer Flüchtlingskonvention zu ändern bzw. abzulösen. Die europäische Flüchtlingspolitik solle neu konzipiert werden. Nach heftiger Kritik u.a. von Seiten der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments und von humanitären Organisationen wurden die umstrittenen Passagen entschärft.

Das österreichische Innenministerium hatte das rund 40 Seiten umfassende Papier bereits im Juli dieses Jahres vorgelegt. Es wurde jedoch erst im September publik. Das Strategiepapier umreißt Perspektiven für eine Neuorientierung der europäischen Migrationspolitik. Ausgehend von der Diagnose, dass heute „einzelstaatliche Interessen den Prozess der Entscheidungsfindung in der Migrationspolitik der Europäischen Union" dominieren, will Österreich die Migrations- und Asylpolitik stärker als gesamteuropäische Herausforderung verstanden wissen.

Die österreichische Vorlage geht davon aus, dass sich die Migrationssituation in der Europäischen Union seit Mitte der 90er Jahre wesentlich veränderte. Während vor 1994 noch der Anstieg des Zustroms von Asylsuchenden im Zentrum des Handlungsbedarfs stand, sei dies heute nicht mehr der Fall. Seit Mitte der 90er Jahre haben sich die Asylbewerberzahlen stabilisiert bzw. weisen einen leichten Abwärtstrend auf. Allerdings - so das Papier - sei die Gesamtzahl illegaler Zuwanderer angestiegen, da die weitestgehend vereinheitlichten Asylbestimmungen in Europa den Zugang zu Asyl erschwerten: „Im Licht des gestiegenen Anteils illegaler Zuwanderer und der hohen Professionalität von Schlepperorganisationen hat dieser Aspekt heute besondere Priorität." In dem Papier heißt es weiter, dass heute davon ausgegangen werden muss, dass jeder zweite Neuzuwanderer in die erste Welt ein illegaler Zuwanderer ist.

Westeuropa ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Krieg auf dem Balkan erheblich größerer Zuwanderung ausgesetzt. Heute kommt es zu Massenbewegungen, für deren Bewältigung die Genfer Flüchtlingskonvention nicht konzipiert worden sei. Im Strategiepapier heißt es dazu: „Entsprechend diesen Entwicklungen hat die Genfer Konvention teilweise ihre Anwendbarkeit auf die real existierenden Problemsituationen verloren. Sie war zweifellos zugeschnitten auf Flüchtlinge, die von autoritären staatlichen Regimen (der kommunistischen Welt oder der unterentwickelten Staaten) vertrieben wurden, aber sie ist überhaupt nicht zugeschnitten auf Vertreibung durch interethnische Konflikte oder auf die Bewältigung illegaler Migration aus manchen Krisengebieten, insbesondere der Dritten Welt." Gängige Verfahrenstechniken der Behandlung jedes individuellen Asylantrags und der damit verbundene Verwaltungsaufwand würden der Bewältigung der Massenbewegungen nicht gerecht. Daher schlug die österreichische Initiative ursprünglich vor, „die Schutzgewährung nicht als subjektives Individualrecht, sondern als politisches Angebot des Aufnahmelandes" zu verstehen. Die Aufnahme von Flüchtlingen solle eine ausschließlich politische Entscheidung werden.

In Deutschland sprachen sich u.a. Pro Asyl und Amnesty International vehement gegen den österreichischen Vorstoß aus. Sie befürchteten, „dass die völkerrechtsverbindlichen Standards zum Schutz von Asylsuchenden und Flüchtlingen weiter sinken." Entfällt das individuelle Recht auf Schutz und Aufnahme, hätten Schutzsuchende keinen gesicherten Rechtsstatus mehr. Anders als mit der Genfer Flüchtlingskonvention hätten die Mitgliedsstaaten dann keine völkerrechtliche Verpflichtung, Asylsuchende und Flüchtlinge aufzunehmen. Allein der politische Wille wäre ausschlaggebend.

Aufgrund massiven Protests auch von Seiten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments wurden strittige Passagen nun abgeändert. Aus dem „politischen Angebot" des Aufnahmelandes wurde in der Neufassung ein „institutionelles Angebot". Es wird nun im Text ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies keinerlei Änderungen der Genfer Konvention beim individuellen Anspruch auf Asyl bzw. auf ein reguläres Asylverfahren bedeute. Auch ist nicht mehr die Rede davon, dass die UN-Flüchtlingskonvention „abgelöst" werden solle. Der österreichische Innenminister Karl Schlögl (SPÖ) erklärte, Österreich wolle eine „positive Erweiterung" der Konvention ermöglichen, jedoch nicht das individuelle Recht auf Asyl beschneiden. Die geänderte Fassung wurde am 5. Oktober in Brüssel dem K4-Ausschuss, einem Beamtengremium zu Sicherheitsfragen übergeben. Die Neufassung wird in den kommenden Wochen von den Beamten im Ausschuss diskutiert. Ende Oktober 1998 wird das revidierte Papier bei einem Treffen der EU-Innenminister in Wien vorgelegt.

Ausgabe: