Deutschland: Schily löst Debatte um Zuwanderung aus

11. Januar 1999

„Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten." Mit dieser Diagnose löste Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) Ende 1998 eine heftige Kontroverse rund um die gegenwärtige und zukünftige Migrationspolitik aus. Kritik wie auch Zustimmung kam aus allen Lagern. Mindestens ebenso umstritten wie die Sache selbst war dabei Schilys Wortwahl.

Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) nannte das Ganze eine „falsche Debatte". Noch deutlichere Kritk äußerte der prominente grüne Europa-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit: „Schily redet, ohne zu denken." Der saarländische CDU-Chef Peter Müller bezeichnete Schily als „geistigen Brandstifter". Auch Heiner Geißler (CDU) rückte die Aussage in die Nähe der Parole „Das Boot ist voll!". Das eine - so Geißler - sei „so schlimm wie das andere". Schleswig-Holsteins Innenminister Ekkehard Wienholz (SPD) tadelte Schily: Er begebe sich „in fatale Nähe zu einem rechtskonservativen Wortschatz". Von dort kam prompt Unterstützung. Bayerns Innenminster Günther Beckstein (CSU) nannte die Sprache seines sozialdemokratischen Kollegen Schily „bemerkenswert realistisch und erfreulich deutlich". Zugleich ergriff Bayern im Bundesrat eine Initiative, die Schily bei der Begrenzung der Zuwanderung aus dem Ausland „unterstützen" sollte (vgl. MuB 1/99). Zustimmung äußerte auch CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Hans-Peter Repnik.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) machte klar, dass er in der Kontroverse voll hinter Schily stehe: „Wir haben Zuwanderung und tragen die Hauptlast der Flüchtlings- und Wanderungsbewegung in Europa. Von daher hat er (Schily) die Realität wiedergegeben, dass zusätzliche Zuwanderung nach Deutschland nicht verkraftbar ist. Und all diejenigen, die ihn kritisiert haben", wies Schröder auf seine eigene Sicht der Dinge hin, erschwerten „das sehr anspruchsvolle Vorhaben (...), das Staatsbürgerschaftsrecht zu reformieren". Ähnlich äußerte sich Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin (SPD).

Cem Özdemir, der innenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen analysierte: Der „Kurs der SPD, Deutschland nach außen abzuschotten", sei offenbar „Bedingung dafür, innerhalb der Partei die (...) doppelte Staatsangehörigkeit durchzusetzen". Für Schily selbst folgt daraus, dass es auf absehbare Zeit kein Einwanderungsgesetz geben darf. Denn dies wäre das falsche Signal nach außen. Dies ist eine deutliche Kehrtwendung gegenüber jener Forderung, die Schily selbst in der Vergangenheit erhob. Prompt reagierte die FDP. Sie legte dem neuen Bundestag nochmals jenen Entwurf eines Einwanderungsgesetzes zur Debatte vor, den sie 1997 parallel zu den seinerzeitigen Entwürfen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und dem Land Rheinland-Pfalz erarbeitet hatte.

Die Debatte rund um Otto Schilys Thesen brachte weder mehr Klarheit in der Sache, noch machte sie Konturen einer zielgerichteten Migrationspolitik der rot-grünen Bundesregierung deutlich. Erkennbar wurde vielmehr ein Dilemma. Tatsächlich erzeugte ein Gutteil der Zuwanderung der 90er Jahre aus ökonomischer und sozialer Sicht Probleme. Hinweise darauf gibt nicht nur die hohe Arbeitslosigkeit unter Aussiedlern und Ausländern in Deutschland. Auch die hohe Zahl von Asylbewerbern und aufgenommenen Bürgerkriegsflüchtlingen stellte die Aufnahmekapazitäten insbesondere in der ersten Hälfte der 90er Jahre auf eine ernste Probe. Doch selbst wenn sie es wollte, könnte die Bundesregierung die Zuwanderung aus dem Ausland nicht von heute auf morgen stoppen. Denn für Bürger anderer EU-Staaten herrscht Freizügigkeit. Zur Annahme und Behandlung von Asylanträgen sind Deutschlands Behörden durch die Genfer Konvention und das Grundgesetz verpflichtet. Auch der Nachzug ausländischer Familienangehöriger ist sowohl völkerrechtlich wie durch den besonderen Schutz der Familie im Grundgesetz verankert. Die Aufnahme von Aussiedlern insbesondere aus Russland und Kasachstan regelt das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1992. Zugleich erschwert die Entscheidung gegen ein Einwanderungsgesetz zweifellos jede Diskussion darüber, welche Kriterien erwünschte Zuwanderer nach Deutschland in Zukunft erfüllen sollten.

Zugleich sollte Folgendes nicht übersehen werden. Obwohl das Ziel der Null-Zuwanderung unrealistisch ist, muss die Gesamtzahl der Migranten in Deutschland nicht ständig weiter wachsen. Zumindest in den Jahren 1997 und 1998 war die Auswanderung von Ausländern aus Deutschland größer als die Neuzuwanderung von Ausländern nach Deutschland. Zugleich gilt, was der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages Hans-Ulrich Klose (SPD) einmal treffend formulierte: „Geprägt vom schlechten Gewissen über das, was einmal war, und unfähig, die eigenen Interessen rational zu definieren", drohe Deutschlands Migrationspolitik allemal zu scheitern. Ein erster Schritt wäre, zwischen humanitär gebotener, politisch gewollter und ökonomisch sinnvoller Zuwanderung zu unterscheiden. Solange wir über diese drei Bereiche immer gleichzeitig reden, ist sowohl die rationale Debatte, als auch die Definition deutscher Eigeninteressen kaum möglich.

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