Balkan: Über zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene

31. Mai 1999

Seit Ende März 1999 haben Gewalt, Vertreibung und Flucht im Kosovo eine neue Dimension erreicht. Bereits 1998 war der seit Jahrzehnten bestehende Konflikt zwischen Kosovo-Albanern und Serben erheblich eskaliert. Die Albaner machten über 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo aus (1998: 2,3 Mio. Einwohner). Nachdem die Provinz 1989 ihre Autonomie verloren hatte und nach jahrelangen Repressionen durch die serbische Verwaltung und Polizei begannen die Albaner zunächst gewaltfrei eigene Staatsstrukturen parallel zur serbischen Verwaltung aufzubauen. Die Aufnahme des bewaffneten Kampfes der UÇK für die Abtrennung der Provinz aus der Bundesrepublik Jugoslawien führte seit 1997/98 zu einer weiteren Eskalation.

Nach verschiedenen Schätzungen flüchteten von 1998 bis Ende März 1999, also bereits vor der jüngsten Zuspitzung des Konfliktes, zwischen 100.000 und 150.000 Kosovo-Albaner vor der Gewalt serbischer Paramilitärs und Armeeverbände. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen verließ die Region. Kosovo-Albaner stellten 1998 ein Viertel aller Asylanträge in Europa. Nach dem Scheitern der Verhandlungen von Rambouillet, dem Abzug der internationalen Beobachter sowie dem Beginn der NATO-Luftangriffe am 24. März stieg die Zahl der Flüchtlinge aus dem Kosovo dramatisch an. Der Abzug der internationalen Beobachter wurde von serbischen Verbänden im Kosovo für die systematische und mit äußerster Brutalität exekutierte Vertreibung der Albaner genutzt. Seit dem 24. März wurden 850.000 Albaner aus dem Kosovo vertrieben (Stand: Ende Mai). Die Mehrheit von ihnen hält sich noch in den Nachbarländern auf.

Die größte Zahl von geflüchteten Kosovo- Albanern ist bisher in Albanien aufgenommen worden: 442.000 Personen. Entlang der Grenze wurden mit Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen große Flüchtlingslager aufgebaut. In der nordalbanischen Stadt Kukes (15.000 Einwohner) entstanden in raschem Tempo Zeltstädte mit 100.000 Flüchtlingen. 300.000 Flüchtlinge wurden bisher durch Kukes in andere Lager geschleust.

Das zweitwichtigste Aufnahmeland ist Mazedonien. Die Anwesenheit von ca. 250.000 albanischen Flüchtlingen wird jedoch von der slawischen Bevölkerungsmehrheit (Serben und Mazedonier) als eine Bedrohung für die innenpolitische Stabilität betrachtet. Sie fürchten, dass auch die albanische Minderheit in Mazedonien (ca. ein Drittel der Bevölkerung) zukünftig eine Sezession anstreben könnte. Von der politischen und militärischen Führung der Kosovo-Albaner war in der Vergangenheit eine solche Abtrennung und ein potentielles Großalbanien als ein mögliches mittel- oder langfristiges Ziel bezeichnet worden. Viele albanische Flüchtlinge in Mazedonien dürfen nur mit besonderen Genehmigungen die Lager verlassen. Es kam bereits mehrmals zu Protesten und Auseinandersetzungen mit der mazedonischen Polizei in den Flüchtlingslagern. Die Regierung in Skopje hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Aufnahmekapazität des Landes erschöpft sei. Mehrfach wurde kurzzeitig die Grenze zum Kosovo gesperrt.

Zahlreiche westliche Staaten und Hilfsorganisationen unterstützen Albanien und Mazedonien bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist mit ca. 300 Mitarbeitern vertreten und fungiert als Koordinator der Hilfsaktion. Sadako Ogata, die Hohe Flüchtlingskommissarin, nannte in einem Bericht vor dem UN-Sicherheitsrat Anfang Mai wesentliche Elemente der Hilfsaktion: Der erste Schritt ist die Aufnahme der Flüchtlinge in grenznahen Durchgangslagern und die medizinische Notversorgung. Die Ankunft von zeitweise mehreren Tausend Flüchtlingen pro Tag bedeutete bereits auf dieser Stufe eine logistische Herausforderung. In verschiedenen Fällen hatten militärische Einheiten der NATO-Staaten beim Aufbau der Zeltstädte geholfen. Ogata betonte jedoch das fundamentale Prinzip der Trennung der Flüchtlingshilfe von militärischen Strukturen.

Ein zweites Element der Hilfe in der Region ist die Unterbringung der Flüchtlinge in Lagern außerhalb der unsicheren Grenzregionen oder bei Familien. Die albanischen Flüchtlinge in Mazedonien sind zur Hälfte bei Familien untergebracht.

In Reaktion auf die Besonderheit der Lage in Mazedonien brachte der UNHCR bisher ca. 70.000 Flüchtlinge aus Mazedonien in Länder außerhalb der Region. Eine weitere Entlastung für Mazedonien soll durch den Transfer von Flüchtlingen nach Albanien erreicht werden. Sowohl der Umzug von Flüchtlingen aus den grenznahen Durchgangslagern in andere Aufnahmelager als auch der Transfer in andere Länder erfordern das Einverständnis der Flüchtlinge. Dabei findet besonders der Umzug von Mazedonien nach Albanien geringe Akzeptanz bei den Flüchtlingen.

Die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern innerhalb der Region sind schwierig. Ogata wies auch auf die Tätigkeit von Menschenhändlern hin, die in den Lagern u.a. junge Frauen für den Prostitutionsmarkt in Westeuropa zu rekrutieren versuchen, teilweise unter Anwendung von Gewalt. Ein reales Risiko seien auch Zwangsrekrutierungen der Befreiungsarmee der Kosovo-Albaner UÇK in den Lagern.

Neben den beiden wichtigsten Aufnahmeländern Albanien und Mazedonien haben auch Montenegro (65.000) und Bosnien-Herzegowina (21.500) Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. In Bosnien- Herzegowina halten sich zusätzlich über 50.000 nichtalbanische Flüchtlinge aus anderen Teilen der BR Jugoslawien auf. Nach Schätzungen des US-Außenministeriums sind innerhalb des Kosovo 600.000 Albaner auf der Flucht und verstecken sich in Wäldern und Tälern.

Im Rahmen der Bemühungen um eine Entlastung der Anrainerstaaten des Krisengebiets haben sich die EU-Staaten und andere Länder Aufnahmequoten auferlegt. Die Türkei ist mit ihrer Zusage, 26.000 Kosovo- Flüchtlingen vorübergehend Schutz zu gewähren, das Land mit der größten Aufnahmeverpflichtung. Deutschland und die USA sind mit je 20.000 Personen die zweitwichtigsten Länder, wobei Deutschland bereits den größten Teil des vereinbarten Flüchtlingskontingents aus dem Kosovo aufgenommen hat (vgl. Tabelle).

Während des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina hatte die Bundesrepublik insgesamt 350.000 bosnische Flüchtlinge vorübergehend aufgenommen. Die Mehrzahl von ihnen sind inzwischen freiwillig und z.T. mit staatlichen Finanzhilfen aus Deutschland wieder zurückgekehrt. Im Vergleich zu der Aufnahmebereitschaft Mitte der 90er Jahre, handelt es sich bei der Aufnahmequote Deutschlands für Kosovo-Flüchtlinge um eine vergleichsweise niedrige Anzahl von Flüchtlingen. Dennoch ist in Deutschland ein innenpolitischer Streit über die Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Kosovo entbrannt.

In einer Regierungserklärung am 15. April 1999 betonte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), dass die Flüchtlinge vorrangig in der Region, also in Mazedonien und Albanien, versorgt werden sollten. Die Bundesregierung sei bereit, „eine angemessene Zahl von Flüchtlingen vorübergehend in Deutschland aufzunehmen“. Sie erwarte jedoch von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO, „dass auch sie einen angemessenen Teil der Lasten tragen“. Während Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) Ende April 1999 noch darauf beharrte, dass nach der Aufnahme von 10.000 Vertriebenen in der Bundesrepublik nun die anderen Staaten dem deutschen Beispiel folgen sollten, verständigte er sich Anfang Mai mit den Innenministern der Länder über die Aufnahme weiterer 10.000 Kosovaren.

Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Kosovo sind erstmals nach § 32a des Ausländergesetzes aufgenommen worden, wobei der Bund den Hauptteil der entstehenden Kosten trägt. Dennoch kritisierten die unionsgeführten Länder sowie die CDU/ CSU-Fraktion im Bundestag die Aufstockung des Flüchtlingskontingents. Die innenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion sowie der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag Erwin Marschewski (CDU) und Wolfgang Zeitlmann (CSU) erklärten, dass die Unterbringung der Flüchtlinge in der Region weiterhin Priorität haben sollte. Die Bundesrepublik solle erst dann weitere Flüchtlinge aufnehmen, wenn die europäischen Partnerstaaten ihre Zusagen zur Aufnahme erfüllt hätten. Berlins Innensenator Eckart Werthebach (CDU) bezeichnete die Aufnahme von zusätzlichen Kosovo-Flüchtlingen als „verfehlt“. Die Erfahrung mit bosnischen Kriegsflüchtlingen habe die Schwierigkeiten einer Rückführung in die Heimatregion aufgezeigt. Die Flüchtlinge würden erkennen, dass sie in Deutschland von Sozialhilfe besser leben könnten als in ihrem Heimatland.

Die Sprecherin des Bundesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen Gunda Röstel bezeichnete die Haltung der unionsgeführten Länder als „schändliche Pfennigfuchserei“. Die unzureichende Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen dürfe „nicht als Argument dafür dienen, dass Deutschland seine eigene humanitäre Verpflichtung vernachlässigt“. Auch Marieluise Beck, Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und flüchtlingspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sprach sich für eine großzügigere Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Kosovo aus. Desweiteren müsse die faktische Aussetzung der Abschiebungen, die auf dem Flugembargo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien basiert, auf die rechtliche Grundlage eines Abschiebestopps gestellt werden. Die Innenminister der Länder seien gefordert, ein bundeseinheitliches Vorgehen sicherzustellen und klare rechtliche Perspektiven für einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland zu schaffen. In einer Presseerklärung setzte sich die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen auch für einen Abschiebestopp für serbische Oppositionelle, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer ein.

Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl begrüßte zwar die Entscheidung von Bundesinnenminister Schily zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge. Sie kritisierte jedoch zugleich seine Weisung an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, bis auf weiteres nicht über Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Kosovo und anderen Teilen Jugoslawiens zu entscheiden. Der Entscheidungsstopp sei „Trickserei zu Lasten der Flüchtlinge“, so Pro Asyl in einer Presseerklärung. Die Behauptung, es fehle an gesicherten Grundlagen, um über Asylanträge entscheiden zu können, werde durch die aktuelle Entscheidungspraxis zahlreicher Verwaltungsgerichte widerlegt. Diese seien in den letzten Wochen dazu übergegangen, Kosovo-Albaner, deren Verfahren bereits bei den Gerichten anhängig gewesen seien, als Gruppenverfolgte anzuerkennen. Flüchtlinge aus dem Kosovo seien nicht Opfer allgemeiner Kriegsereignisse, sondern hätten als aus ethnischen Gründen Verfolgte Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Noch bis Mitte März 1999 hatten deutsche Verwaltungsgerichte sich auf Lageberichte des Auswärtigen Amtes berufen, nach denen eine explizit an die albanische Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung im Kosovo nicht festzustellen sei.

Auch in anderen europäischen Ländern hat die Frage nach der Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Kosovo innenpolitische Kontroversen ausgelöst. Großbritannien hatte zunächst angekündigt, einige Tausend Flüchtlinge aufzunehmen; konkrete Zahlen wurden jedoch nicht genannt. Anfang Mai hat die Regierung in London ihre zunächst restriktive Aufnahmepolitik geändert. Innenminister Jack Straw (Labour) kündigte an, ab Juni wolle man bis zu 1.000 Menschen wöchentlich Zuflucht gewähren. Als die Flüchtlingsfrage Anfang April akut wurde, hatte auch Frankreich erklärt, es werde auf keinen Fall massiv Flüchtlinge aufnehmen. Der für Flüchtlingsfragen zuständige sozialistische Premierminister Lionel Jospin gab jedoch auf Druck der Öffentlichkeit nach. Derzeit ist von 6.500 Personen die Rede, die Frankreich bis Ende Juni insgesamt aufnehmen will. Bislang sind in den EU-Staaten mindestens 37.000 Personen angekommen.

Neun Wochen nach Beginn der NATO-Luftangriffe ist deutlich, dass die ursprünglichen Ziele dieser Intervention nicht erreicht wurden. Insbesondere konnte der jugoslawische Präsident Milosevic auf diese Weise nicht gezwungen werden, die serbischen Truppen aus dem Kosovo abzuziehen und damit die Rückkehr der albanischen Flüchtlinge zu ermöglichen. Die mit beispielloser Brutalität durchgeführte ethnische Säuberung hat das Milosevic-Regime international isoliert. Es ist jedoch unklar, ob der Druck auf Jugoslawien, auch von traditionellen Verbündeten, ausreicht um Milosevic zu einer Verhandlungslösung zu zwingen.

Die gegenwärtige Unterbringung der mehr als 780.000 albanischen Flüchtlinge in der Region wird sich nicht lange fortsetzen lassen, insbesondere nicht im Winter. Die erste und zwingend notwendige Voraussetzung für ihre Rückkehr in das Kosovo ist Sicherheit vor der Verfolgung durch serbische Verbände. Kommt es nicht zu einer Verhandlungslösung, dann kann nur ein Krieg mit Bodenkampftruppen diese Bedingung schaffen. Verluste und Implikationen eines solchen Krieges sind nahezu unabsehbar. Ein Bodenkrieg würde das Kosovo aus Jugoslawien herauslösen und die Region damit potentiell destabilisieren. Es ist nicht klar, ob die Besetzung des Kosovo durch NATOTruppen bereits Sicherheit für die heimkehrenden Flüchtlinge schaffen würde, denn die serbische Armee hat sich seit Jahrzehnten u.a. mit Waffenlagern auf einen Untergrundkrieg vorbereitet.

Die physische Sicherheit vor serbischer Verfolgung allein dürfte aber auch noch keine hinreichende Bedingung für die baldige Rückkehr der Kosovo-Albaner sein. 500 der 800 Dörfer und Städte im Kosovo sind seit Ende März ganz oder teilweise niedergebrannt und verwüstet worden. Große Teile der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Basis sind zerstört. Ein Bericht der Europäischen Kommission von Anfang Mai schätzte, dass ein Wiederaufbauprogramm in der Größenordnung von mindestens sechs Mrd. US-Dollar notwendig sei, bevor die Mehrheit der Flüchtlinge wieder in das Kosovo zurückkehren könne. Auch nach einer evtl. erfolgreichen Besetzung des Kosovo wäre unrealistisch, für dieses Jahr die Rückkehr aller Flüchtlinge zu erwarten. UNHCR hat bereits mit der Bestellung winterfester Zelte begonnen.

Selbst im günstigsten Fall und bei einem großzügig angelegten Wiederaufbauprogramm muss man erwarten, dass die Auswanderung aus der Region in den nächsten Jahren beträchtlich zunehmen wird. Neben 780.000 albanischen Flüchtlingen in den Nachbarstaaten und 600.000 Binnenflüchtlingen im Kosovo sind auch 500.000 Flüchtlinge in Serbien (aus Kroatien und Bosnien- Herzegowina) von der Krise betroffen. Sowohl Serbien als auch das Kosovo sind wirtschaftlich auf den Stand am Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgeworfen. Diese Situation wird ein starker Push-Faktor für die Auswanderung in den nächsten Jahren sein. In der jüngsten Vergangenheit haben bereits 350.000 überwiegend junge Serben und mehr als 360.000 Kosovo-Albaner die Region verlassen. Damit bestehen auch verwandtschaftliche Beziehungen und Netzwerke, die weitere Wanderungen begünstigen.

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