Im Irak führte die Unterdrückung oppositioneller Bewegungen und von Bevölkerungsgruppen durch diktatorische Regime in den vergangenen Jahrzehnten zu Emigration, Flucht und Vertreibung. Insbesondere Kriege und Aufstände im kurdischen Teil des Iraks hatten Massenfluchten ins benachbarte Ausland zur Folge, so 1975, 1988 und 1991. Der Sturz Saddam Husseins durch die USA-geführte Militärkoalition 2003 hat jene politischen Verhältnisse, die Flucht und Migration ausgelöst haben, grundlegend und unumkehrbar verändert, aber noch nicht zu einer stabilen neuen Ordnung geführt.
Bevölkerung und Migration: Bevölkerungsstatistiken für den Irak basieren auf früheren staatlichen, ethnisch manipulierten Angaben und Volkszählungen und dienten der Überwachung. Sie sind demnach äußerst ungenau. Wissenschaftliche Quellen gehen von 22-23 Mio. Einwohnern aus und geben folgende Verteilung der Bevölkerungsgruppen an: 55-60% schiitische Araber, 20-25% sunnitische Araber, 15-20% Kurden und jeweils 3-4% Turkmenen und Christen unterschiedlicher Konfession.
Im 20. Jahrhundert hat sich der Bevölkerungsanteil der kleineren Minderheiten durch kontinuierliche Auswanderung rapide verringert. Derzeit leben 600.000-800.000 Christen im Irak. Mehrheitlich gehören sie zur chaldäischen (400.000) oder assyrischen (90.000) Kirche. Große Exilgemeinden existieren in den USA, Westeuropa und Australien.
Nahezu vollständig sind 1951/52 die irakischen Juden ausgewandert, deren Bevölkerungszahl 1948 135.000 betrug. Die danach Verbliebenden wenigen Tausend unterlagen starken politischen Beschränkungen und reisten später aus.
In weitaus geringerem Umfang stellt der Irak ein Einwanderungsland dar. Bis zum Beginn des Golfkrieges 1991 lebten Arbeitsmigranten aus asiatischen Ländern und aus Ägypten im Irak.
Fluchtbewegungen: Binnen weniger Tage flohen im März 1990 nach der Niederschlagung von Volksaufständen 450.000 Iraker (hauptsächlich Kurden) in die Türkei und 1,3 Mio. in den Iran. Schätzungsweise 20.000 starben unterwegs. Die Weigerung der Türkei, den Flüchtlingen Aufnahme und Schutz zu gewähren, veranlassten die USA und ihre Verbündeten zur „Humanitären Intervention", um mit internationalen Hilfsorganisationen die kurdischen Flüchtlinge in den Nordirak zurückzuführen. Nachdem sich die zentralstaatlichen Institutionen von dort zurückgezogen hatten, entstand eine eigenständige kurdische Administration.
Seit den 1980ern lebten neben Kurden viele Schiiten als Flüchtlinge im Iran. Vor dem Krieg 2003 hielten sich Schätzungen zufolge im Iran 200.000, in Jordanien 250.000-300.000, in Syrien 40.000, in Kuwait 15.000 und in Saudi Arabien 5.200 Iraker als vom UNHCR registrierte Flüchtlinge oder Personen mit flüchtlingsähnlichem Status auf. Der Irak gehört zu den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber in westeuropäischen Staaten, wobei Deutschland, Schweden und die Niederlande Hauptaufnahmeländer sind. Nach UN-Angaben gab es zwischen 1990-1999 insgesamt rund 184.800 Asylantragsteller (ohne nachgezogene Ehe- und Familienangehörige).
In geringem Umfang fanden Flüchtlinge aus anderen Ländern Zuflucht im Irak. Laut aktuellen UNHCR-Angaben leben rund 23.600 oppositionelle Iraner (v.a. Kurden, aber auch iranische Araber), 13.000 Kurden aus der Türkei sowie 90.000 Palästinenser im Irak. Seit Sturz des Baath-Regimes ist eine allmähliche Rückkehr dieser Flüchtlingsgruppen zu verzeichnen.
Staatsbürgerschaft: Die Staatsbürgerschaft im nach dem I. Weltkrieg gebildeten Staat Irak setzte (für Männer und Frauen) den vom männlichen Familienoberhaupt oder Verwandten abgeleisteten Wehrdienst (in der osmanischen oder späteren irakischen Armee) voraus. Auch nachfolgende Generationen mussten ihre irakische Abstammung im Zweifelsfall nachweisen. Verbreitet war, die Identität der Ehefrau im Pass des Ehemannes einzutragen.
Der Willkür des Regimes unter Führung der Baath-Partei waren insbesondere Iraker „persischer Abstammung" - kurdische und arabische Schiiten _ ausgesetzt, denen entgegen gesetzlicher Regelungen die irakische Staatsbürgerschaft verweigert oder entzogen wurde.
Waren von Ausbürgerung und Abschiebung in den Iran bereits in den 1970ern etwa 70.000 kurdische Familien betroffen, erreichten die Kampagnen gegen kurdische und arabische Schiiten während des Iran-Irak-Krieges in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt und erfassten bis zu 300.000 Iraker.
Die Übergangsverfassung vom 8. März 2004 stellt die Staatsbürgerschaft auf ein rechtsstaatliches Fundament und garantiert jeder Person „irakischer Nationalität" die Staatsbürgerschaft. Doppelstaatsbürgerschaften sind zugelassen. Unrechtmäßig Ausgebürgte haben das Recht auf Wiedereinbürgerung (Art.11). Flüchtlinge, die sich im Irak aufhalten, genießen Abschiebeschutz (Art.19).
Migrationspolitik: Das Baath-Regime verfolgte vor allem im Norden eine Politik der Umsiedlung und Arabisierung, die seit 1975 etwa 220.000 kurdische Familien betraf. Die Zerstörungen von Dörfern gipfelten in den Anfal-Offensiven 1988 mit der Deportation und späteren Zwangsumsiedlung der Zivilbevölkerung.
Eine besonders umfangreiche Ansiedlung von Arabern erfolgte in der Region Kirkuk, wo Schätzungen zufolge 300.000 Kurden und Turkmenen vertrieben wurden.
In den Sumpfgebieten im Südirak führten seit den 1980er Jahren Militäraktionen gegen die schiitische Bevölkerung (Marsch-Araber) und sich versteckende Aufständische zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang. Die gezielte Austrocknung der Sümpfe entzog den Bewohnern, von denen viele getötet und etwa 100.000 vertrieben wurden oder in den Iran flohen, die landwirtschaftlichen Lebensgrundlagen.
Die 1990 durch die UN verhängten Sanktionen und die staatlich-repressive Verteilung der knappen Ressourcen sind für die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten verantwortlich. Trotz verschärfter Passvorschriften und hoher Ausreisegebühren konnte das Baath-Regime die massive Auswanderung von Irakern nicht stoppen.
Ausblick: Das 2003 nach dem Sturz des Baath-Regimes gebildete Ministry of Displacement and Migration ist in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen für die Unterstützung der rückkehrwilligen irakischen und nicht-irakischen Flüchtlinge sowie der Binnenvertriebenen zuständig.
Offizielle Stellen gehen von rund 800.000 Binnenvertriebenen im Nordirak und 100.000-300.000 in Zentral- und Südirak aus. Geschätzte 900.000 Iraker leben als Flüchtlinge im Ausland. Bis Januar 2004 kehrten etwa 250.000 - in der Regel individuell - in den Irak zurück. Aufgrund der instabilen Sicherheitslage werden Rückkehr und Reintegration der Binnenvertriebenen und Flüchtlinge vermutlich noch lange dauern. Christian Pommerening, Ethnologe, Leipzig
Weitere Informationen:
http://www.rferl.org/reports/iraq-report
http://www.unhcr.org
http://www.cpa-iraq.org
http://www.ecoi.net