Einwanderungspolitik: Im Verhältnis zu seiner Bevölkerung hat Kanada seit den 1980er Jahren mehr Einwanderern dauerhaften Aufenthalt gewährt als jedes andere Land. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Einwanderungspolitik des Landes von einem „Aussperrmechanismus für NichtEuropäer“ zu einem Auswahlinstrument, mit dem wirtschaftliche, demographische, soziale und humanitäre Ziele verfolgt werden können. So werden seit den 1990er Jahren mehr als 200.000 Personen jedes Jahr als dauerhafte Einwanderer zugelassen.
Aktuell wird die Einwanderung nach Kanada im Einwanderungs- und Flüchtlingshilfegesetz (Immigration and Refugee Protection Act, IRPA) von 2001 geregelt. Personen können demnach einen Antrag auf dauerhaften Aufenthalt stellen, wenn sie in eine der drei Aufnahmekategorien fallen: Einwanderer aus wirtschaftlichen Gründen (z. B. Facharbeiter oder Unternehmer), Zuwanderer im Rahmen von Familienzusammenführung sowie Flüchtlinge (siehe Grafik). Weitere Bestimmungen existieren für temporäre Arbeitskräfte und Studierende. Für 2007 hat die Regierung eine Zulassungsquote von 240.000-265.000 Personen vorgesehen, das entspricht dem höchsten Wert in den letzten 25 Jahren. Langfristig soll die jährliche Einwanderungsquote auf etwa 300.000 (ca. 1 % der Gesamtbevölkerung) angehoben werden, um der sinkenden Geburtenrate entgegenzuwirken.
Das „Punktesystem“: 1967 wurde ein Punktesystem eingeführt, anhand dessen Sachbearbeiter in den Einwanderungsbehörden Punkte für Bildung, Sprachkenntnisse und Arbeitsmarktchancen bis zu einer festgelegten Höchstzahl vergeben. Die Kategorien, in denen Punkte verteilt werden, änderten sich über die Jahre ebenso wie die Mindestsumme, die zur Zulassung erzielt werden muss. Dieses System ist jedoch nach wie vor das Herzstück der kanadischen Einwanderungspolitik.
Der Auswahl nach dem Punktesystem (siehe Tabelle) müssen sich nicht alle potenziellen Zuwanderer unterziehen. Sie betrifft lediglich die Hauptantragsteller in der Kategorie „Wirtschaft“, nicht aber ihre Familienangehörigen. Das bedeutet, dass 2005 lediglich rund 23 % aller dauerhaft zugelassenen Einwanderer anhand von Sprachkenntnissen, Bildungsgrad, Alter, Berufserfahrung, Anpassungsfähigkeit oder bereits vereinbartem Arbeitsverhältnis ausgewählt wurden.
Einwanderer: 2001 waren 18 % der gesamten Wohnbevölkerung des Landes im Ausland geboren, also Einwanderer. In geografischer Hinsicht verteilen sie sich ungleichmäßig über das Land. Aus Angaben der Volkszählung 2001 geht hervor, dass 56 % der Einwanderer in Ontario, 20 % in British Columbia und 13 % in Quebec leben. In den restlichen Provinzen und Territorien wurde jeweils weniger als 7 % der Bevölkerung außerhalb Kanadas geboren. In den Ballungsgebieten Toronto, Vancouver und Montreal machen Einwanderer 45 %, 38 % bzw. 18 % der Bevölkerung aus.
In den letzten 40 Jahren haben eine veränderte Zuwanderungspolitik und internationale Ereignisse, die neue Migrationsbewegungen auslösten, für einen Wandel bei den Herkunftsländern gesorgt. 1961 kam die Mehrheit (90 %) der Einwandererbevölkerung aus Europa. Heute kommt ein Großteil der Einwanderer aus asiatischen Staaten. Die zehn wichtigsten Herkunftsländer der 2005 zugelassenen permanenten Einwanderer waren: China, Indien, die Philippinen, Pakistan, die USA, Kolumbien, Großbritannien, Südkorea, Iran und Frankreich.
Staatsbürgerschaft und Einbürgerung: In Kanada gilt die Einbürgerung als ein wichtiger Schritt im Integrationsprozess. Das Land hat die höchste Einbürgerungsquote der Welt: Im Jahr 2001 waren 70 % aller Einwanderer eingebürgert. 2003 nahmen 112.978 Personen die Staatsbürgerschaft an, 2004 sogar 146.919 Personen. Am häufigsten wurden in den letzten Jahren Chinesen und Inder eingebürgert, gefolgt von Zuwanderern aus Pakistan und von den Philippinen.
Um eingebürgert zu werden, muss eine Person bereits vier Jahre im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sein und bei Antragstellung mindestens drei Jahre in Kanada gelebt haben. Außerdem sind Sprachkenntnisse in Englisch oder Französisch erforderlich. Antragsteller zwischen 18 und 54 Jahren müssen an einem Einbürgerungstest teilnehmen. Dieser Multiple-Choice-Test umfasst Fragen zum Wahlsystem, zur Geschichte und Geografie des Landes, zu Rechten und Pflichten der Staatsbürger sowie zum politischen System Kanadas und der Region, in der der Antragsteller lebt. Im Einzelfall kann die Einbürgerung verweigert werden, z. B. wegen strafrechtlicher Vergehen, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Seit 1977 ist die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt und findet weitestgehend Akzeptanz in der Bevölkerung. Das Statistische Bundesamt Kanadas schätzt, dass ungefähr 557.000 Kanadier (rund 1,8 % der Bevölkerung) eine zweite Staatsbürgerschaft besitzen.
Herausforderungen für die Politik: Nicht nur in Europa wird Kanadas Einwanderungspolitik häufig als Vorbild betrachtet, insbesondere das Punktesystem. Dasselbe trifft auf die Integrations- und Multikulturalismuspolitik des Landes zu. Trotz seiner Stärken steht das Einwanderungssystem vor großen Herausforderungen.
Erstens ist das Punktesystem zur Auswahl von qualifizierten Einwanderern momentan so ausgerichtet, dass mittlere und höhere Angestellte bevorzugt werden, nicht aber Facharbeiter und ungelernte Arbeiter, die sehr stark im Baugewerbe und anderen Sektoren benötigt werden. Zwar gibt es ergänzende Programme, über die z. B. temporäre Arbeitskräfte ins Land geholt werden können. Langfristig müsste jedoch überlegt werden, wie das Auswahlverfahren für Arbeitskräfte neu justiert werden kann, um den Bedürfnissen der kanadischen Wirtschaft gerecht zu werden.
Zweitens finden es hochqualifizierte Zuwanderer immer schwieriger, in Kanada einen ihren Qualifikationen entsprechenden Beruf auszuüben. Einer Auswertung der Volkszählung von 2001 zufolge war unter den zwischen 1991 und 2001 angestellten, erst kurz zuvor eingewanderten Immigranten mit Hochschulabschluss ein Viertel in solchen Jobs tätig, die lediglich einen High-School-Abschluss erforderten. Dass die Einwanderer nicht ihren Qualifikationen entsprechend eingesetzt werden, wird vor allem den Problemen bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse zugeschrieben. Die Konsequenzen dieser Situation sind für die Einwanderer ebenso gravierend wie für den Rest der Bevölkerung. Einerseits müssen Hochqualifizierte, die aus gut bezahlten und prestigeträchtigen Berufen kommen, Status- und Einkommensverluste hinnehmen. Andererseits erleidet die kanadische Wirtschaft in vielen Bereichen einen Arbeitskräftemangel (z. B. Mediziner und Ingenieure), dem eigentlich durch Einwanderung entgegengewirkt werden soll.
Drittens mangelt es der Bürokratie in Kanada an einer Infrastruktur, die die hohe Zahl von Einwanderungsanträgen bewältigen kann. Nach Berechnungen der Bundesbehörde für Staatsbürgerschaft und Einwanderung gibt es zurzeit einen Bearbeitungsrückstand von rund 800.000 Anträgen. In dieser Zahl sind noch nicht die Anträge auf befristeten Aufenthalt oder Anerkennung eines Flüchtlingsstatus eingerechnet. Wegen des Rückstaus wurden die Wartezeiten immer länger. In China und Indien, den derzeit wichtigsten Herkunftsländern von Einwanderern, beträgt die Wartezeit allein für das Bewerbungsgespräch inzwischen fünf bis sechs Jahre. Die in den letzten Jahren abnehmende Zahl von Anträgen aus diesen Ländern wird darauf zurückgeführt, dass frustrierte Bewerber in die USA oder nach Europa gehen.
Ausblick: Über alle politischen Parteien hinweg und in der Öffentlichkeit haben behutsame Grundsatzentscheidungen der kanadischen Politik einen vergleichsweise hohen Grad an Akzeptanz für Masseneinwanderung und die damit einhergehende ethnische Vielfalt geschaffen. Es wird weithin akzeptiert, dass die Einwanderung den Eigeninteressen des Landes dient. In den letzten Jahren ist von Beobachtern jedoch zunehmend infrage gestellt worden, ob die kanadische Einwanderungspolitik wirklich noch den Interessen des Landes und der Menschen diene, die sich zur Immigration entschließen. Sollten Fehlentwicklungen nicht zügig korrigiert werden, drohe Kanada der Verlust sowohl der Akzeptanz seiner Bevölkerung für Masseneinwanderung als auch seines internationalen Rufs als Mustereinwanderungsland. Jennifer Elrick, Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), Migration Research Group
Die 12-seitige Langfassung dieses Länderprofils mit umfangreichem Datenmaterial ist in Deutsch und Englisch abrufbar unter: www.focus-migration.de und www.migration-info.de/migration_und_bevoelkerung/laenderprofile/index.htm
In der Rubrik Länderprofile / Country Profiles sind bei focus Migration bereits erschienen: Deutschland, Frankreich, Polen, USA, Türkei, Spanien und Litauen