Sinus-Studie: Lebenswelten von Migranten in Deutschland

22. November 2007

Die Alltagswelt von Migranten, ihre Wertorientierungen, Lebensziele, Wünsche und Zukunftserwartungen sind Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Untersuchung „Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“. Hierfür entwickelte das Heidelberger Institut Sinus Sociovision u. a. im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ein Modell über acht unterschiedliche Migranten-Milieus. Nach Angaben des BMFSFJ gab es bisher noch keine vergleichbare Studie. Die Ergebnisse wurden Mitte Oktober in Berlin vorgestellt.

Sinus-Studie unterscheidet acht Migranten-Milieus
Religiös-verwurzeltes Milieu: archaisch-bäuerlich geprägtes Milieu; Glaubensgemeinschaft und Herkunftsnation als wichtigste Bezugspunkte; Wunsch nach Rückkehr in die Heimat; große innere Distanz zu Staat und Gesellschaft in Deutschland; schlechte Sprachkenntnisse; unteres Einkommen.
Traditionelles Gastarbeitermilieu: erste Generation der Einwanderer; Traum von Rückkehr ins Heimatland aufgegeben; traditionelles Arbeitsethos; Anerkennung deutscher „Tugenden“; materiell gesichert; defizitär integriert; schlechte Deutschkenntnisse.
Entwurzeltes Milieu: Flüchtlingsmilieu; stark materialistisch geprägt; ohne Integrationsperspektive; geringe Bildung; oft angewiesen auf staatliche Hilfe; fehlende Sprachkenntnisse.
Statusorientiertes Milieu: erste und zweite Einwanderergeneration; Wunsch nach Integration sowie sozialem, materiellem und beruflichem Aufstieg; mittleres Einkommen.
Intellektuell-kosmopolitisches Milieu: Streben nach Selbstverwirklichung; hohe Bildung; mittleres Einkommen; schnelle und aktive Integration; Kritik an fundamentalistischen muslimischen Strömungen.
Adaptives Integrationsmilieu: pragmatisch; Streben nach Sicherheit, individueller Selbstbestimmung; mittlere Bildung; mittleres Einkommen; Wunsch nach schneller Integration.
Multikulturelles Performermilieu: jung; flexibel; leistungsorientiert; aufgeschlossen; höhere Bildung; mittleres bis gehobenes Einkommen; schnelle Integration; Selbstverständnis als Weltbürger und oft bikulturelle Identität.
Hedonistisch-subkulturelles Milieu: zweite Einwanderergeneration; jung; mittlere bis gehobene Bildung; meist noch in Ausbildung oder in prekären Arbeitsverhältnissen; meist kein eigenes Einkommen; Identifizierung nicht mit Mehrheitskultur, sondern mit Subkulturen; häufig Ausgrenzungserfahrungen.
Weitere Informationen: www.sinus-sociovision.de/Download/Report_Migranten-Milieus_16102007_Auszug.pdf

In Deutschland leben etwa 15,3 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, das sind rund 19 % der Wohnbevölkerung (vgl. MuB 5/07, 5/06). Diese Migranten-Population ist keine soziokulturell homogene Gruppe. Vielmehr zeigt sich in der Studie „eine vielfältige und differenzierte Milieulandschaft“. Mit Milieus sind Gruppen gemeint, die sich durch Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensweise, ihrer Grundorientierung und ihrer sozialen Lage auszeichnen. Die Sinus-Studie identifiziert und beschreibt acht Migranten-Milieus mit unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensstilen (siehe Info-Kasten).

Für die qualitative Studie hat das Sinus-Institut mehrstündige Tiefeninterviews mit 104 Migranten in der von ihnen am besten beherrschten Sprache durchgeführt. Befragt wurden italienische, spanische, portugiesische und griechische Gastarbeiter der ersten Generation und deren Kinder sowie Türken, Kurden, Polen, Russen, Spätaussiedler und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ethnische Herkunft, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad wurden zu etwa gleichen Teilen berücksichtigt. Die Ergebnisse sind aufgrund der qualitativen Ausrichtung der Studie nicht repräsentativ im statistischen Sinne. Um Größe und Struktur der Migranten-Milieus zu bestimmen, ist als nächster Forschungsschritt eine Quantifizierung des Modells geplant.

Selbstverständnis: Grundtenor der Sinus-Studie ist, dass Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte die Alltagskultur von Einwanderern beeinflussen, aber nicht milieuprägend und identitätsstiftend sind: „Die Herkunftskultur der Migranten bestimmt nicht ihre Milieuzugehörigkeit.“ Migranten-Milieus unterschieden sich vielmehr nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben. Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbinde mehr miteinander als mit ihren Landsleuten aus anderen Milieus. Gerade auch der Einfluss religiöser Traditionen werde oft überschätzt.

Integration: Die meisten befragten Migranten verstehen sich als Teil der multikulturellen deutschen Gesellschaft und wollen sich integrieren – ohne ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen, so die Studie. Viele, v. a. jüngere Befragte der zweiten und dritten Generation, haben ein bi-kulturelles Selbstbewusstsein und sehen Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit für sich selbst und für die Gesellschaft als Bereicherung. Bei drei der acht Milieus erkennen die Forscher sehr starke Assimilationstendenzen (statusorientiertes Milieu, adaptives Integrationsmilieu, multikulturelles Performermilieu).

Viele befragte Einwanderer beklagen die mangelnde Integrationsbereitschaft der Deutschen und deren geringes Interesse an Migranten. Allerdings sind auch Haltungen einer zum Teil aktiven oder passiven Integrationsverweigerung bei den befragten Migranten erkennbar. Dies trifft auf das religiös-verwurzelte Milieu, das entwurzelte Milieu und das hedonistisch-subkulturelle Milieu zu.

Die Studie bestätigt, dass die Integrationsbereitschaft von Einwanderern bildungs- und herkunftsabhängig ist: Je höher ihr Bildungsstand und je urbaner ihre Herkunftsregion, desto leichter gelinge es ihnen, sich einzugliedern und Fuß zu fassen.

Geschlechterrollen: Die Sinus-Studie zeigt, dass in dem überwiegenden Teil der Migranten-Milieus traditionelle Rollenbilder dominieren. Gleichberechtigung ist nur bei höher ausgebildeten Migranten „als gesellschaftlicher Wert“ fest verankert.

Sozialstatus: Hinsichtlich der sozialen Lage der Migranten sieht die Studie die meisten Einwanderer im Bereich der unteren Mitte. Dabei gebe es unter ihnen weniger starke soziale Unterschiede als innerhalb der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.

Leistungsbereitschaft: Die Sinus-Studie konstatiert bei den befragten Migranten eine insgesamt deutlich höhere Leistungs- und Einsatzbereitschaft als in der deutschen Bevölkerung. Die Forscher fanden auch Hinweise auf das Entstehen einer neuen Elite: im intellektuell-kosmopolitischen Milieu, das sich an Werten wie Aufklärung, Toleranz und Nachhaltigkeit orientiert. „Teile dieses Milieus haben das Potential, zu Leitgruppen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu werden“, heißt es in der Studie.

Weitere Informationen:
www.sinus-sociovision.de
www.sinus-sociovision.de/Download/Report_Migranten-Milieus_16102007_Auszug.pdf (Auszug der Studie)
www.bmfsfj.de

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