Das medizinische Versorgungssystem in Deutschland muss sich auf eine steigende Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund als Patienten einstellen. Eine angemessene Behandlung muss daher migrationsspezifische Einflussfaktoren berücksichtigen, Anbieter im Gesundheitswesen müssen sich interkulturell öffnen.
Derzeit leben rund 15,4 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, Tendenz steigend (vgl. MuB 10/08). Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (18,8 %) ist in Großstädten am größten (z. B. Frankfurt/M.: 42 %, Stuttgart: 38 %; München: 35 %, Köln: 32 %). Knapp ein Drittel aller in Deutschland lebenden Kinder unter fünf Jahren hat einen Migrationshintergrund. Auf diese wachsende Patientengruppe ist das Gesundheitswesen in Deutschland bisher unzureichend eingestellt.
Spezifische Einflussfaktoren: Menschen mit Migrationshintergrund sind eine heterogene Patientengruppe, die das monokulturell ausgerichtete deutsche Gesundheitssystem vor besondere Herausforderungen stellt. Bei der medizinischen Behandlung von Zuwanderern spielen migrationsspezifische, kulturell bedingte und soziale Einflussfaktoren eine Rolle. Zu wichtigen migrationsspezifischen Faktoren gehören Einwanderungsmodus, Aufenthaltsstatus, Grad der Integration in die hiesige Mehrheitsgesellschaft, Sprachkompetenz, Herkunftsregion und Religion. Zu den kulturell bedingten Einflussfaktoren zählen die sich teils stark unterscheidenden Krankheitskonzepte und damit verbunden andere Erwartungen an Fachkräfte im Gesundheitswesen, Rollenkonflikte und Statusverluste nach der Migration. Soziale Gesichtspunkte umfassen den Bildungsgrad, das Einkommen sowie die Arbeits- und Wohnverhältnisse.
Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen: Migranten sind häufig ungenügend über bestehende Angebote im Gesundheitsbereich informiert und nehmen daher Gesundheitsdienstleistungen anders in Anspruch als Einheimische. Beispielsweise haben viele Migranten Angst vor arbeits- oder ausländerrechtlichen Konsequenzen. Während sie Leistungen zur Gesundheitsaufklärung weniger nutzen, sind sie in der Akutmedizin (z. B. Notfallambulanzen von Krankenhäusern) überrepräsentiert. Sie erhalten häufiger diagnostische Untersuchungen und bekommen mehr Arzneimittel verschrieben, was ein Hinweis auf eine erschwerte Kommunikation zwischen Arzt und Patient sein kann. Immer noch werden bei der Erhebung der Krankheitsgeschichte und bei der Therapieplanung zum Übersetzen komplizierter medizinischer Inhalte unqualifizierte Hilfskräfte oder Angehörige hinzugezogen. Ohne den Einsatz kompetenter Dolmetscher führen Verständigungsschwierigkeiten häufiger zu Fehldiagnosen, können folgenschwerere Krankheitsverläufe und verlängerte Liegezeiten in Krankenhäusern verursachen.
Parameter für Volksgesundheit: Bei typischen Parametern für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung wie Säuglingssterblichkeit, Angebot und Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen, Zahngesundheit, Durchimpfungsraten, Unfallraten und Arbeitsunfällen schneiden Migranten deutlich schlechter ab als Menschen ohne Migrationshintergrund. Aus gesundheitsökonomischer Sicht führt eine mangelhafte Prävention zu höheren volkswirtschaftlichen Kosten.
Die Säuglingssterblichkeit als wichtiger Indikator für Gesundheit ist bei Migrantenfamilien erhöht, da sie Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft seltener und deutlich später in Anspruch nehmen. Im Bereich der Zahngesundheit leiden Zuwandererkinder verstärkt unter Kariesbefall. Auch werden sie viel seltener bei den geforderten kinderärztlichen Verlaufsuntersuchungen U7 bis U9 vorgestellt (50 %). Bei Kindern ohne Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei rund 90 %.
Während 84 % der deutschen Schulanfänger nach Impfplan geimpft sind, sind es nur 56 % der Zuwanderer insgesamt. Für einen wirksamen Schutz der Bevölkerung müsste eine Durchimpfungsrate von 90 % vorliegen. Auch erleiden Migranten häufiger Arbeits- und Verkehrsunfälle.
Schlussfolgerungen: Die Anbieter im Gesundheitswesen sind bisher unzureichend auf die Versorgung von Migranten eingestellt. Als Beispiel sei das Controlling deutscher Krankenhäuser erwähnt, die den Migrationshintergrund ihrer Patienten nicht korrekt erfassen. Daher sind bisherige Aussagen zu den Erkrankungen von Migranten noch sehr dürftig. Es bedarf großer prospektiver Studien mit medizinischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen, damit Versorgungsangebote für Migranten auf wissenschaftlich gesicherten, epidemiologischen Ergebnissen beruhen.
Ferner sollten bei Verständigungsschwierigkeiten mit Patienten kompetente Sprachmittler bzw. muttersprachliche Kommunikationshilfen eingesetzt werden. Staatliche Behörden wie zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Gesundheitsdienstleister und Kostenträger sind gefragt, mehrsprachige Informationsmaterialien zur Verbesserung der Versorgungsqualität zu entwickeln. Kultursensibles und sprachkompetentes Fachpersonal sollte gezielter ausgebildet und eingesetzt werden. Auch könnte die Vergabe öffentlicher Mittel an eine längst überfällige interkulturelle Öffnung von Versorgungseinrichtungen gebunden werden.
Von enormer Bedeutung ist die Aus- und Weiterbildung von Entscheidungsträgern im Gesundheitssystem. Die Lehrpläne in der Ausbildung von Fachpersonal müssen spezifische Aspekte der Behandlung von Migranten enthalten.
Dr. med. Elif Duygu Cindik, Master in Public Health, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Weiterbildungsassistentin für Neurologie, München
Kontakt zwecks interdisziplinärem Austausch: E-Mail: