Eine neue Flüchtlingskatastrophe vor der sizilianischen Mittelmeerinsel Lampedusa im Oktober ließ erneut den Ruf italienischer Politiker nach Hilfe zur Sicherung der EU-Außengrenzen laut werden. Italiens Regierungschef forderte vor dem Europäischen Parlament die Solidarität der übrigen Mitgliedstaaten ein.
„Wir können unsere Augen vor diesen Flüchtlingstragödien nicht verschließen. Das reiche, christliche Europa muss überlegen, wie es die aufnimmt, die hier eine Zukunft suchen“, sagte Silvio Berlusconi (Forza Italia). Bei dem Unglück Anfang Oktober hatten auf einem Flüchtlingsboot von rund 100 Insassen lediglich 14 überlebt. Zu Beginn der Überfahrt von Libyen nach Italien am 3. Oktober war der Außenbordmotor ausgefallen, woraufhin das Boot 16 Tage im Meer trieb. In Ermangelung von Trinkwasser und Lebensmitteln und angesichts der Kälte starben jeden Tag mehr Flüchtlinge. Sie wurden von den Überlebenden über Bord geworfen, um ein Sinken zu verhindern. Nur noch 13 Leichen konnten geborgen werden, als italienische Fischer das herrenlose Boot entdeckten.
Viele weitere Flüchtlinge wurden im Oktober vor und auf Lampedusa aufgegriffen, an einem Tag allein 450. Dies war insbesondere deshalb ungewöhnlich, weil die italienische Regierung nach zahlreichen Flüchtlingsbewegungen über den Seeweg Anfang Juli ein Abkommen mit Libyen geschlossen hatte. Libyen und Italien verständigten sich hierbei zu gemeinsamen Maßnahmen zur Unterbindung illegaler Migration.
In Lampedusa waren im Mai und Juni zahlreiche Flüchtlingsboote gelandet, das Aufnahmezentrum für die Gestrandeten war ständig überfüllt (vgl. MuB 6/03). Wurden im Jahr 2000 nach staatlichen Angaben 445 illegale Einwanderer nach ihrer Ankunft in Lampedusa aufgegriffen, waren es zwei Jahre später bereits fast 10.000. Doch aufgrund des bilateralen Abkommens mit Libyen und der Erneuerung eines bereits bestehenden mit Tunesien riss der Flüchtlingsstrom ab. Die illegale Einwanderung über den Seeweg ging in der Folge um rund 40 % zurück.
Einerseits wird derzeit spekuliert, ob die Flüchtlinge das Herbstwetter nutzen wollen, bevor Stürme und Kälte die Überfahrt unmöglich machen. Andererseits vermuten italienische Politiker, dass der libysche Staatschef Muammar Gaddafi die Migranten als politisches Druckmittel verwendet. Sein Ziel könnte die Aufhebung des EU-Embargos für zivil und militärisch nutzbare Technologiegüter sein, mit dem sein Land seit den frühen 90er Jahren belegt ist. Demzufolge forderte Ministerpräsident Berlusconi von den EU-Mitgliedstaaten nicht nur eine engere Zusammenarbeit in Einwanderungs- und Flüchtlingsfragen, sondern auch die Aufhebung des Embargos, da es verhindere, dass die Küstenwache des nordafrikanischen Staates mit modernem Überwachungsgerät ausgestattet werden könne.
Auch Innenminister Giuseppe Pisanu (Forza Italia) forderte, dass das Problem der Bootsflüchtlinge nicht ausschließlich auf dem Rücken der unmittelbar betroffenen Staaten ausgetragen werden dürfe. Neben gemeinsamen europäischen Grenzkontrollen spricht sich die italienische Regierung für gemeinsame Einwanderungsquoten sowie verstärkte Wirtschaftshilfe für die Herkunftsländer aus.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) forderte angesichts der jüngsten Ereignisse ein konsequenteres Vorgehen gegen internationale Schlepperbanden. „Die Mafiosi dieser Welt wechseln zum Schleppen“, sagte der deutsche UNHCR-Vertreter Stefan Berglund in Berlin. In diesem Geschäft werde mittlerweile mehr Geld umgesetzt als mit Drogenhandel. Deshalb sei die Bekämpfung der Schlepper für den internationalen Flüchtlingsschutz aktuell wichtiger als die Schaffung ökonomischer Standards in den Herkunftsländern. chw