In seiner Sitzung am 13. Dezember 2001 beriet der Deutsche Bundestag in erster Lesung das vom Bundeskabinett vorgelegte „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung" (vgl. MuB 08/01). Währenddessen spitzte sich die unionsinterne Auseinandersetzung um eine einheitliche Position zum Zuwanderungs- und Integrationsgesetz zu. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) suchte in Gesprächen mit CDU-Landespolitikern nach Kompromissen, um auch im Bundesrat eine Mehrheit für den Gesetzentwurf zu erhalten.
Während Politiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf der Regierungskoalition in der Bundestagsdebatte verteidigten, kritisierten Vertreter der oppositionellen Unionsfraktion das geplante Zuwanderungsgesetz als zu weitgehend. CDU und CSU kündigten an, den Regierungsentwurf in Bundestag und Bundesrat abzulehnen, falls es nicht zu einer deutlichen Annäherung an die Positionen der Union kommen sollte. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wolfgang Bosbach hob als entscheidende Forderung der Union hervor, dass „der Zuwanderungsdruck gemindert" werden müsse. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Erwin Marschewski warf Schily vor, dass weder der Familiennachzug noch der Zuzug von Bürgerkriegsflüchtlingen reduziert würden und verwies in diesem Zusammenhang auf die Erfahrung, dass aus Gastarbeitern „Daueranwesende" geworden seien. Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Kerstin Müller bezeichnete den Entwurf hingegen als einen „Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen Einwanderungspolitik".
Da das Zuwanderungs- und Integrationsgesetz ein zustimmungspflichtiges Gesetz ist, muss sowohl die Mehrheit des Bundestages als auch des Bundesrates dem Gesetz zustimmen. Die SPD-geführten Bundesländer verfügen über 31 der insgesamt 69 Stimmen im Bundesrat. Für eine Mehrheit sind jedoch 35 Stimmen notwendig. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) versuchte daher, mit einigen Landesregierungen eine Kompromisslösung zu finden. Als besonders entscheidend gilt das Abstimmungsverhalten des von einer SPD/CDU-Koalition regierten Landes Brandenburg, da es über die noch notwendigen vier Stimmen im Bundesrat verfügt. Der Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) ließ bereits erkennen, dass er dem Regierungsentwurf zustimmen würde, wenn eine Begrenzung der Zuwanderung im Gesetz deutlicher festgeschrieben würde. In diesem Punkt kündigte Schily ein Entgegenkommen der Regierung an. Das Ziel der Zuwanderungsbegrenzung könne, so Schily, im §1 des Zuwanderungsgesetzes festgeschrieben werden.
Neben der Forderung nach Zuwanderungsbegrenzung nannte CDU-Verhandlungsführer Peter Müller drei weitere Punkte, in denen seine Partei änderungen einfordere: Der im rot-grünen Gesetzentwurf vorgesehene Abschiebeschutz für Opfer geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung dürfe nicht über die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehen. Des Weiteren lehnt die Union eine Festlegung der Zuwanderungszahlen durch regionale Arbeitsämter ab. Stattdessen solle allein auf Bundesebene über das Ausmaß der Zuwanderung entschieden werden. Schließlich nannte Müller das Nachzugsalter für Kinder als weiteren Dissenspunkt zwischen Regierung und Opposition. Während Müller sich auf keine klare Altersgrenze festlegen wollte, fordern andere Unionspolitiker eine Altersgrenze für nachziehende Kindern zwischen 6 und 10 Jahren. Der Beschluss des Bundesrats-Innenausschusses sieht eine Altersgrenze von 10 Jahren vor, Schilys Entwurf hingegen 14 Jahre.
Der Verhandlungsführer der SPD-Bundestagsfraktion beim Thema Zuwanderung Ludwig Stiegler erklärte, dass man das Gesetz nicht am Nachzugsalter scheitern lassen wolle. Ein möglicher Kompromiss läge bei einer Altersgrenze von 12 Jahren, ergänzt durch eine Ermessensregelung, um in Problemfällen flexiblere Entscheidungen treffen zu können. An der regionalen Bedarfsfeststellung von ausländischen Arbeitskräften soll festgehalten werden, wobei diese jedoch durch eine überregionale „Deckelung" begrenzt werden soll. Schily hatte sich vorher stets gegen eine solche Obergrenze ausgesprochen. Die Zahl soll durch eine Rechtsverordnung festgelegt werden, die von Bund und Ländern gemeinsam zu erarbeiten wäre.
Müller und Schily sprachen sich dafür aus, Zuwanderer an den Kosten der vorgesehenen Sprach- und Integrationskurse zu beteiligen, wenn diese nicht anders finanziert werden können. Die „symbolisch wichtigen Punkte" wie der Schutz der Opfer von geschlechtsspezifischer oder nichtstaatlicher Verfolgung sollen nicht mehr geändert werden, so Stiegler. Auch die Grünen lehnen eine Abkehr von dieser Regelung ab. Denn, so Parteivorsitzende Claudia Roth, „das ist nicht grün, das ist nicht radikal, das ist europäische Praxis". Auch an dem Nachzugsalter von 14 Jahren wollen die Grünen festhalten. Die Bundesausländerbeauftragte Marieluise Beck wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Jahr 2000 lediglich 4.800 türkische Kinder nachgeholt wurden. Dies entspreche „289 Kindern für einen Jahrgang", so Beck.
Am 20. Dezember 2001 behandelte der Bundesrat das Zuwanderungsgesetz in erster Lesung. Bei der Abstimmung über die mehr als 170 änderungsanträge der unionsregierten Bundesländer fanden viele, sehr weitreichende Korrekturwünsche keine Mehrheit. So wurde ein Antrag der CDU/CSU-geführten Länder abgelehnt, den seit 1973 geltenden Anwerbestopp beizubehalten. In der mehrstündigen Debatte der Länderkammer bekräftigten Unionspolitiker ihre ablehnende Haltung zum Regierungsentwurf. Die endgültige Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz wird voraussichtlich im März 2002 stattfinden.
Innerhalb der CDU/CSU versuchen führende Politiker, eine einheitliche Linie im Zuwanderungsbereich festzulegen, eine Abstimmungsniederlage im Bundesrat zu verhindern und Geschlossenheit im Bundestagswahlkampf zu demonstrieren. Sowohl die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel als auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) drängten die rot-grüne Regierungskoalition zu einem Entgegenkommen in der Zuwanderungsfrage. Wenn die Bundesregierung keine Lösungen anbietet, so werde die Union das Thema „klar zu einem Wahlkampfthema machen", so Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag Anfang Dezember in Dresden. Ministerpräsident Stoiber schloss nicht aus, dass die Bundestagswahl 2002 „praktisch die Volksabstimmung" über die Zuwanderung werden könne.
Indessen mehrten sich jedoch auch kritische Stimmen innerhalb der Union. Der frÜhere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und die ehemalige Bundestagspräsidentin und Vorsitzende der Zuwanderungskommission der Bundesregierung Rita SÜssmuth warfen Teilen ihrer Partei Polemik und Taktiererei in der Zuwanderungsfrage vor. Ein im November 2001 vorgelegtes Papier der CDU-Wertekommission unter der Leitung des rheinland-pfälzischen CDU-Landesvorsitzenden Christoph Böhr fordert einen „zeitnahen" Familiennachzug fÜr Kinder bis zum Alter von 18 Jahren. Zur BegrÜndung heißt es in dem Papier, dass die Integration von Zuwanderern nur dann gelinge, wenn Familien nicht zerrissen wÜrden.
Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und Kirchen haben die Parteien zu einer baldigen Verabschiedung des Zuwanderungs- und Integrationsgesetzes aufgerufen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) kritisierte ferner, dass Härtefällen in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht genÜgend Rechnung getragen werde (vgl. MuB 04/01). Der Direktor des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) und Präsident des Deutschen Instituts fÜr Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin Klaus F. Zimmermann warnte davor, das Zuwanderungsgesetz aus taktischen GrÜnden „auf dem Altar des Wahlkampfes zu opfern". ähnlich äußerte sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel sowie der stellvertretende Bundesvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Gerd Nies.
Mit den Stimmen der rot-grÜnen Regierungskoalition sowie der CDU/CSU-Fraktion verabschiedete der Bundestag in seiner Sitzung am 14. Dezember 2001 das Terrorismusbekämpfungsgesetz („Sicherheitspaket II", vgl. MuB 07/01). Auch der Bundesrat stimmte dem Entwurf am 20. Dezember 2001 zu, so dass das Gesetz am 1. Januar 2002 in Kraft treten kann. Das Gesetz ist ein umfassendes Paket zur Ausweitung der Kompetenzen des Bundesgrenzschutzes (BGS) und der Verfassungsschutzbehörden. Hintergrund des Gesetzespakets sind die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 (vgl. MuB 07/01). Der BGS soll nach In-Kraft-Treten des Gesetzes uneingeschränkt Ausweise kontrollieren dÜrfen. Außerdem wird das Einsatzgebiet des BGS im Grenzgebiet von bisher 30 auf 50 km ausgedehnt. Ferner werden die GrÜnde fÜr die Ausweisung von Ausländern erweitert. Ein bloßer Verdacht auf Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung", wie es die Länder Bayern und Niedersachsen gefordert hatten, reicht als Abschiebegrund jedoch nicht aus. Des Weiteren werden Ausländern, die ein langfristiges Visum fÜr den Aufenthalt in Deutschland beantragen, zukÜnftig FingerabdrÜcke abgenommen. FÜr Asylbewerber und Geduldete sind fälschungssichere Ausweise vorgesehen. Lichtbilder, FingerabdrÜcke und Sprachanalysen von Asylbewerbern können fÜr einen Zeitraum von bis zu 10 Jahren gespeichert werden. Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst sollen kÜnftig Zugriff auf Daten aus Asylverfahren bekommen.
FlÜchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, DatenschÜtzer sowie FDP und PDS kritisierten das Sicherheitspaket als unverhältnismäßig starken Eingriff in die individuellen Rechte und Freiheiten von Einzelpersonen. Vor allem nichtdeutsche BÜrger seien von dem Gesetzespaket besonders stark betroffen. sta
Weitere Informationen:
www.parlamentsspiegel.de/cgi-bin/hyperdoc/show_dok.pl?k=BBD921/01
dip.bundestag.de/btd/14/073/1407386.pdf
www.cdu.de/presse/archiv-2001/wertekommission.pdf