Ende April hörte der Gesundheitsausschuß des Bundestages Sachverständige zu den geplanten änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) an. Der Bundesrat hatte den Gesetzentwurf am 6.2.1998 beschlossen. Die erste Lesung des Gesetzes im Bundestag fand am 26.3. statt. Das Gesetz beruht auf einer Initiative des Landes Berlin, die von der Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) und Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) im Sommer 1997 angeregt worden war. Auslöser war der Zuzug von ca. 800 Flüchtlingen aus der Bundesrepublik Jugoslawien innerhalb weniger Monate - überwiegend wohl Kosovo-Albaner - die nach erfolgter unerlaubter Einreise Duldungen sowie Leistungen nach dem AsylbLG beantragten. Aufgrund der schleppenden Umsetzung des Rückübernahmeabkommens mit Jugoslawien war und ist es faktisch kaum möglich, diese Personen abzuschieben. ähnliches gilt für vietnamesische Staatsangehörige. Die CDU/CSU-regierten Länder Bayern und Baden-Württemberg überarbeiteten den Berliner Gesetzentwurf grundlegend. Neben Berlin stimmten auch die SPD-(mit)regierten Länder Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland dem Gesetzesantrag zu. Der neue § 1a AsylbLG stellt die zentrale Regelung der Novelle dar.
Nach derzeit noch geltender Rechtslage sind die Leistungen nach dem AsylbLG um ca. 30% niedriger als die nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Haushaltsvorstände und Alleinstehende z.B. bekommen 440 DM monatlich. Nach dem BSHG stünden ihnen durchschnittlich 530 DM zu. Außerdem sind nach dem BSHG regelmäßig einmalige Leistungen zu gewähren, insbesondere z.B. für Bekleidung, die nach herrschender Praxis in den Sätzen gemäß § 3 AsylbLG bereits enthalten sind.
Hinzu kommt, daß die Leistungen nach dem AsylbLG mittlerweile überwiegend als Sachleistung gewährt werden. Zur freien Verfügung bleibt dann lediglich ein Barbetrag in Höhe von 80 DM monatlich. Die Kosten pro Leistungsbezieher liegen bei durchschnittlich über 1.000 DM pro Monat - z.B. in Berlin bei 1.300 DM. Dies liegt daran, daß das Asylverfahrensgesetz die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vorschreibt, was die Kosten erhöht. Die Unterbringung in Wohnungen wäre deutlich billiger, ist aber politisch nicht erwünscht. Die Kosten werden von den Kommunen getragen und diesen von den Ländern teilweise erstattet. Eine fast vollständige Kostenerstattung gibt es, soweit ersichtlich, derzeit nur im Land Brandenburg.
Leistungsberechtigt sind neben Asylsuchenden mit laufendem Verfahren alle geduldeten und anderen zur Ausreise verpflichteten Ausländer. Dabei kann es sich um abgelehnte Asylsuchende, um Kriegsflüchtlinge (Bosnien), um De-facto-Flüchtlinge oder um illegal eingereiste Personen handeln. Letztere erhalten Leistungen, wenn sie von Polizei oder Bundesgrenzschutz aufgegriffen werden, oder wenn sie sich aufgrund einer Notlage von selbst an Behörden oder z.B. Krankenhäuser gewendet haben. Schätzungsweise 250-320 Tsd. Personen - 50% bis 65% aller zum Jahresende 1996 gezählten knapp 500 Tsd. Leistungsbezieher - sind "Geduldete" und "vollziehbar zur Ausreise Verpflichtete".
Für die Leistungsberechtigung kommt es bisher weder auf den Grund der Einreise noch auf die Möglichkeit an, die Bundesrepublik zu verlassen. Daß Deutschland allen Ausländern, die sich tatsächlich im Land aufhalten, einen minimalen Lebensunterhalt garantiert, beruht auf verschiedenen Erwägungen. Im Vordergrund steht die Tatsache, daß die Bundesrepublik ein ausländerrechtliches Instrumentarium in der Hand hat, um den Aufenthalt von ausreisepflichtigen Ausländern zu beenden. Solange sich Ausländer in der Bundesrepublik aufhalten, wäre es mit menschenrechtlichen und sozialstaatlichen Prinzipien unvereinbar, sie hungern zu lassen. Dies gilt umso mehr, als die Migrations- und Flüchtlingspolitik mit dem faktisch bestehenden Arbeitsverbot eine klare Entscheidung getroffen hat: nämlich Sozialausgaben zum Schutze des inländischen Arbeitsmarktes in Kauf zu nehmen. Schließlich wurde seit langem ein Betrag von zwischen 75 und 80% des Sozialhilferegelsatzes als das zum Lebensunterhalt "Unerläßliche" angesehen, den zu unterschreiten Menschenwürde- und Sozialstaatsgebot nicht erlaubten.
Während und nach der Beschlußfassung im Bundesrat zeigte sich, daß einzelne Ländervertreter unterschiedlicher Auffassung waren, welchen Personenkreis die Novelle betrifft. So versicherte Senatorin Beate Hübner (CDU, Berlin), daß bosnische Kriegsvertriebene von der Neuregelung nicht betroffen seien. Bestritten wurde auch, daß die änderung De-facto-Flüchtlinge treffen könnte, die aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen geduldet werden. Tatsächlich ist jedoch beides der Fall. Die Novelle erfaßt alle geduldeten Ausländer unabhängig vom Grund der Duldung. Dazu gehören z.B. die meisten bosnischen Kriegsvertriebenen, vor den Taliban geflüchtete Frauen aus Afghanistan, Intellektuelle aus Algerien, Bürgerkriegsflüchtlinge aus afrikanischen Staaten, Deserteure der Westgruppe der Roten Armee, Kranke, Behinderte und Schwangere - mithin alle De-facto-Flüchtlinge. Betroffen von der Gesetzesänderung sind insbesondere auch Bosnier, denen nach Ablauf der Duldung eine Ausreisefrist gesetzt und lediglich eine Grenzübertritts- oder Paßeinzugsbescheinigung ausgestellt wird.
Zwar verbieten das deutsche Ausländerrecht sowie völker- und verfassungsrechtliche Normen die Abschiebung in Staaten, in denen Folter, andere unwürdige Behandlung oder Lebensgefahr droht (rechtliches Abschiebungshindernis). Nichts verbietet aber den anerkannt schutzbedürftigen Ausländern, sich durch die Ausreise freiwillig diesen Gefahren auszusetzen. Damit ist für De-facto-Flüchtlinge in aller Regel eine freiwillige Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich. Paradoxerweise liegen rechtliche und tatsächliche Ausreisehindernisse gerade bei jenen Ausländern vor, auf die die Novelle ursprünglich zielte. Die Rückübernahmeabkommen mit Vietnam und der Bundesrepublik Jugoslawien erschweren nämlich durch ihre komplizierten Formalitäten und hohen Anforderungen an den Nachweis der Identität nicht nur die Abschiebung, sondern behindern unter Umständen auch die freiwillige Rückkehr.
Als Rechtsfolge tritt bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale - Zugehörigkeit zum Personenkreis und Möglichkeit der freiwilligen Ausreise - die Reduktion der Leistungen auf das im Einzelfall Unabweisbare ein. Was genau das ist, läßt sich kaum vorhersagen. Denkbar ist die Bezahlung der Ausreisekosten, die Unterbringung in Sammellagern ohne Bargeldbezug oder auch die Gewährung der vollen Leistungen nach dem AsylbLG. Sofern Sozialämter und Gerichte ein Leistungsniveau unter dem des AsylbLG für nicht zumutbar halten, wird sich für die meisten Leistungsbezieher nicht viel ändern. Dies gilt vor allem, da es kaum zulÄssig sein dürfte, durch Leistungsentzug die "freiwillige" Ausreise jener Personen zu erzwingen, die aus übergeordneten Gründen einen Rechtsanspruch auf Verbleib in Deutschland haben.
In der Praxis wird die Novelle gleichwohl zu einer zusÄtzlichen Belastung der SozialÄmter mit Einzelfallentscheidungen führen. Außerdem wird es zu einer größeren Zahl von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten kommen. Eine Kostenentlastung ist damit kaum in Sicht. Ein nicht veröffentlichter Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums sah vor, auch Geduldete in Sammelunterkünften unterzubringen, wenn sie unter den neuen § 1a fallen. Die Argumentation des Abgeordneten Wolfgang Lohmann (CDU, Lüdenscheid) in der Bundestagsdebatte deutete ebenfalls in diese Richtung. Solch ein Vorgehen würde zumindest kurzfristig keine Kostenersparnis, sondern im Gegenteil Mehrkosten verursachen.
Es gibt Hinweise darauf, daß die Einbeziehung der meisten Geduldeten wie auch der bosnischen Kriegsvertriebenen in die geplanten Kürzungen von den meisten Landesregierungen nicht angestrebt wird und auch in Teilen der Bonner Regierungskoalition auf Ablehnung stößt. WohlfahrtsverbÄnde, Kirchen, UNHCR und nichtstaatliche Flüchtlingsorganisationen haben bereits seit Februar darauf hingewiesen, daß die Novelle einen größeren Personenkreis betrifft, als zunÄchst angenommen wurde, und in der auslÄnderrechtlichen und sozialpolitischen Konsequenz höchst bedenklich ist. Ein von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kommt zu dem Ergebnis, daß das Änderungsgesetz verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht wird. Voraussichtlich wird das Gesetz nicht so verabschiedet werden, wie es vom Bundesrat beschlossen worden ist.
Sibylle Röseler, Berlin